Willkommen in der Welt der Mehrdeutigkeit – wider den uninformierten Rigorismus

Offene Gesellschaften in konfliktreichen Welten

Wenn wir, in einer zunehmend durchlässigen und von scharfen Konflikten gekennzeichneten Welt, freie und offene Gesellschaften erhalten wollen, dann werden wir nicht darum herum kommen, von uns selbst und anderen, von jedem Einzelnen aber auch von kleineren und größeren Gemeinschaften, mehr Ambivalenzfähigkeit und Ambiguitätstoleranz einzufordern.

Die große Frage wird sein, ob und wie es offenen Zivilgesellschaften gelingen kann – unter dem weltweit anschwellenden Druck des Autoritären – für die Entwicklung von Toleranz und Konfliktfähigkeit Entwicklungsräume zu erhalten, zu schaffen und zu sichern!

Ambivalenzfähigkeit (von ambo: beide, valere: gelten) bedeutet, mit einem Nebeneinander von gegensätzlichen Aussagen, Einstellungen, Gefühlen und Gedanken angemessen umgehen zu können.

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Hackesche Höfe Berlin

Wir werden lernen müssen, mit unangenehmen Gefühlen von Zwiespältigkeit, Doppeldeutigkeit und Mehrdeutigkeit umzugehen, ohne der naheliegenden Versuchung zu erliegen, die gefühlten gordischen Knoten mit einem Schwerthieb zu durchtrennen, nur um uns kurzfristig emotionale Erleichterung (für unsere Gewissensnöte) zu verschaffen. Wir werden lernen müssen, sowohl das Eine als auch das Andere zu fühlen und zu denken, sowohl das Eine als auch das Andere, vielleicht auch „something completely different“ (Monty Phyton) zu tun.

Ambiguitätstoleranz (auch: Unsicherheitstoleranz, Ungewissheitstoleranz) bezeichnet die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten, bzw. mit mehrdeutigen, unsicheren, ungewissen und widersprüchlichen Situationen umzugehen. Ambiguitätstolerante Personen können Unterschiede und Gegensätze (kulturelle, weltanschauliche, politische, ökonomische, schicksalhafte, natürliche) zunächst überhaupt einmal  wahrnehmen (im doppelten Sinne des Wortes), ohne in einen Spaltungsmodus zu geraten (Spaltungsmechanismen anzuwenden). Sie können mit  gegenläufigen Tendenzen, widersprechenden Loyalitäten oder mehrdeutigen Informationen  umgehen, ohne darauf (sofort, reflexhaft) aggressiv (nach Außen) oder depressiv (nach Innen) oder regressiv (Ruf nach Autorität, Vereinfachung) zu reagieren.

Die Psychoanalytikerin Frenzel-Brunswik hat beschrieben, wie sich Ambiguitätstoleranz allmählich in Kindheit und Jugend entwickeln kann. Gute Rahmenbedingungen: Sicherheit, Geborgenheit, sichere Bindung an herausfordernde Gegenüber, Entwicklungsräume zur Ausbildung von Identitätsempfinden, Selbstwert- und Kohärenzgefühlen. Die Fähigkeit zeigt sich darin, die Koexistenz (Gleichzeitigkeit) von positiven und negativen Eigenschaften in ein und derselben Person (Mama, Papa, Autoritäten) oder demselben System (Eltern, Familie, Staat)  zu erkennen und aushalten zu können. Diese Fähigkeit stellt der (reinen, romantischen, ungebrochenen, spontanen) Idealisierung ein Realitätsprinzip zur Seite, das für eine pragmatische Ausgewogenheit im Kontakt zur Wirklichkeit sorgt.

Wenn Situationen oder andere Menschen unberechenbar und unkontrolllierbar erscheinen, empfinden Menschen mit wenig ausgebildeter Ambiguitätstoleranz erhöhten STRESS. Sie tendieren dann dazu, mit unreflektierten Ideen, einfachen Lösungen, strikten  Regelsystemen und monokausalen Denkweisen wieder Ordung und Struktur (in sich selbst und in ihrer Umgebung) herzustellen. Das Phänomen ist leicht einsichtig. Denn ohne großen Aufwand können wir diese Form der Regression ins Primitive in angespannten Situationen im Prinzip auch bei uns selbst beobachten. Es handelt sich offenbar um einen allgemein menschlichen Mechanismus. Wenn Gegensätze eskalieren sinkt das Vertrauen und die Toleranz.

Eine solche Situation scheint jetzt, nimmt man die Übererregtheiten der Debatten als Symptom, eingetreten zu sein.

Konfliktfähigkeit und Toleranz in schwierigen und unübersichtlichen Zeiten

Wem die Sonne scheint, der kann leicht Toleranz, Ironie und Coolness zeigen. Erst in schwierigen, unübersehbaren und konfliktreichen Zeiten zeigt sich allerdings die wahre Reife von offenen Gesellschaften (und den Personen, die sie ausmachen). Den Grad der  Reife erkennen wir an der Diskussion-und Debattenkultur: wie und inwieweit können gegensätzliche Gedanken, Meinungen und Standpunkte geäußert und vertreten werden, ohne die jeweils andere Haltung, Einstellung und Meinung zu entstellen oder zu dämonisieren?

Warum ist der Eskalationsmechanismus, der zum Abbruch der Auseinandersetzungen und des gemeinsamen Nachdenkens führt, so fatal? Weil der Rückzug in isolierte „Parallelgesellschaften“, in Bestätigungsblasen oder postmoderne Beliebigkeitsarreale demokratische Gesellschaften von Innen heraus auflöst. „Teile und herrsche“, das ist für Obrigkeitsregime vielleicht kurzfristig eine kluge Strategie, in offenen Gesellschaften dagegen führt eine solche Hybridisierung zum Verfall. Die diskursiven Bezugspunkte verschwinden, es gibt keine kossensuell geteilten Wahrheiten mehr, und es wird zunehmend unklarer, was die freiheitlich agierenden Akteure im Innersten zusammenhält. Die liberale, offene Gesellschaft verliert ihre Mitte und in die Lücke streben Glaubenssysteme und Weltanschauungen, die autoritär „von Oben“ vorgeben, was Sache ist und was zu tun sei.

Offene und demokratische Gesellschaften leben und sterben mit der lebendigen, informierten und zivilisierten öffentlichen Auseinandersetzung. Einen besseren Schutz kennt die offene Gesellschaft nicht!

Auseinandersetzungen in der offenen Gesellschaft dürfen (müssen manchmal) pointiert, scharf, polemisch, karikierend (übertrieben), leidenschaftlich und zynisch, möglichst ohne Tabus, ja auch kränkend und weh tuend, geführt werden. Die offene Demokratie ist keine Therapiegruppe. Dafür müssen liberale, demokratische und offene Gesellschaften Räume bereitstellen, und, bei Strafe ihres Untergangs, offen halten und offen gestalten.

Räume aber entstehen durch Begrenzung. Es ist seltsam genug, dass es gegenwärtig notwendig erscheint, diese sehr einfache Tatsache zu betonen. Ohne Grenzen lösen sich  soziale Räume und Identitäten auf.

Wo liegen die Grenzen, die offene, tolerante Gesellschaften (immer wieder) erkämpfen, aushandeln und verteidigen müssen? Eine Grenze, die deutlich markiert und verteidigt werden muss, das ist die Verteufelung, die Entmenschlichung, die Dämonisierung des Anderen. Dämonisierende Feindbilder (Haim Omer) führen irgendwann zur „heiligen Inquisition“ und in der Konsequenz zu „heiligen“ barbarisch geführten Kriegen. Egal, ob es sich nun um die alten oder neuen Glaubenskriege oder die Kriege totalitärer Ideologien (Faschismus, Kommunismus) handelt, die Europa in der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts so schrecklich verwüstet haben. Wir bleiben anfällig. Die Zivilisation ist verletzlich.

Der barbarische Terror, den wir so fürchten, schlummert in jedem von uns, und die absolutistische Grammatik aller universalen (monotheistischen, totalitär-weltlichen) Glaubenssysteme und Wertanschauungen begünstigt den Ausbruch dieses Furors. Keiner sollte sich einbilden, davon frei zu sein. Deshalb muss die offene, demokratische und säkulare Gesellschaft alles tun, um diesen Furor einzuhegen und zu begrenzen. Vor allem aber muss eine offene Kultur zeigen, dass sie die Konflikte und Herausforderungen, vor denen wir stehen, ganz praktisch besser bewältigen kann – indem sie sich Auseinandersetzungs- und Konfliktfähig zeigt, und gleichzeitig durch sinnvolle Regelungen Gewalt auf das Notwendigste beschränkt.

Wider den uninformierten Rigorismus

In der gegenwärtigen Situation, die uns auf vielen Ebenen gleichzeitig herausfordert, zeigt sich allerdings in den öffentlichen und privaten Auseinandersetzungen ein uninformierter, emotional übersteuerter, zum Teil naiver Rigorismus (in Fragen der Moral und Meinung), der die offene Gesellschaft gefährdet. So viel Hysterie und Rechthaberei war selten.

Wenn der bekannte Jungphilosoph David Precht dem Altphilosophen Peter Sloterdijk (wegen eines kritischen Artikels zur Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel im Cicero) „Nazi-Jargon“ vorwirft, dann hat dies durchaus symbolischen Character. Man muss Sloterdijks Positionen und Auffassungen nicht teilen, aber die Argumente mit einem einfachen „Nazi-Jargon“ unter den Tisch des öffentlich Zumutbaren zu wischen, das ist nicht nur unfair und erfüllt den Tatbestand der Desinformation – hat der Kollege Precht eigentlich die Bücher und Aufsätze des Kollegen Sloderdijk gelesen? – es ist auch kontraproduktiv und gefährlich, weil eine solche intellektuelle Entgleisung das Klima vergiftet, die notwendige Auseinandersetzung torpediert und der Eskalation der Gegensätze ohne Not in die Hände spielt.

Viele Diskussionen, vor allem im anonymen Netz, laufen aktuell auf einem ähnlichen Niveau. Damit ist nicht das dumpfe Blubbern rechtsradikaler Trolle gemeint. Nur allzu viele rechts-konservative und links-liberale Akteure zeigen den gleichen unduldsamen, uninformierten, unüberlegten und unwissenden Habitus – immer im vollen Brustton einer wie auch immer gearteten festen Überzeugung, die offensiv nicht hinterfragt werden will.

Woher kommt nur dieser törichte, mit Überheblichkeit durchtränkte emotionale Rigorismus auf der „Linken“? Dieser Zeigefinger-Gestus, der die eigene inhaltliche Unsicherheit und Gedankenarmut zu verbergen sucht, indem nur allzu schnell und reflexartig Begriffe wie „Rassismus“, „Sexismus“ oder „Nazi“ als Keulen im Kampf der Argumente missbraucht werden. Dieser furor sanandi, der garnicht merkt, dass er das Gegenteil von dem anrichtet, was er bezweckt. Das kulturelle Niveau sinkt und die Differenzierungen werden vom Eifer gefressen.

All das wäre genug Anlass zur Melancholie, wenn da nicht der Optimismus wäre, der mich glauben lassen will, dass alle, wirklich alle, die sich öffentlich zur Flüchtlingsfrage äußern, vorher das ausgezeichnete und sehr informative Buch von Paul Scheffer, die Eingewanderten lesen. Vielleicht können wir zur Abwechslung mal von einem Holländer lernen.

 

Über Jan Bleckwedel

Psychologe und Autor
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