Von der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft – Die schleichende Kolonisierung sozialer Beziehungen und menschlicher Lebenswelten

Große Internetfirmen scheinen gigantisch überbewertet. Allein Facebook soll 300 Milliarden Dollar wert sein. Die Summe aller Werbeausgaben weltweit liegt aber bei etwa 500 Milliarden. Die Erklärung kann also nicht allein in der Bereitstellung einfacher Daten für die Werbewirtschaft liegen. Was ist für kluge Investoren so reizvoll an Google und Co?

Dafür liefert der amerikanische Philosoph Michael Betancourt (2016, Critique of Digital Capitalism) eine interessante Perspektive. Die Argumentationslinie läßt sich in etwa so zusammenfassen:

  • Unternehmen des digitalen Sektors verhalten sich prinzipiell nicht anders als Unternehmen des Finanzkapitals
  • Unternehmen des Finanzkapitals werden besonders getrieben durch den Drang getrieben, neue Produkte und Märkte zu „erfinden“ („Valorisierung“).
  • Valorisieren bedeutet  vor allem, dass Dinge, Zustände, Ereignisse oder Prozesse, die (bisher noch) keinen Warencharakter haben und daher nicht für Wertschöpfung zur Verfügung stehen (mithin „wertlos“ sind), zu Waren werden, die sich auf einem Markt verkaufen lassen. Das geschieht, indem diese Dinge, Zustände, Ereignisse oder Prozesse zu Produkten/Waren umgewandelt werden und/oder neue Märkte geschaffen werden.
  • Es kann dabei auch um Dinge, Zustände, Ereignisse und Prozesse gehen, die (noch gar) nicht existieren, oder von denen man noch nicht genau sagen kann, worin sie überhaupt bestehen werden. Allein die Aussicht auf neue Märkte berauscht die Phantasie von Investoren  und lockt spekulatives Abenteuerkapital (venture capital) an.
  • Digitale Unternehmen wie Facebook, Google oder Amazon sammeln nun nicht einfach nur Daten (wie früher die Stasi auf Kartei-oder Lochkarten). Die Firmen sammeln Informationen über Menschen, menschliche Beziehungen, Gewohnheiten und Lebenswelten, sie bleiben aber nicht dabei stehen. Sie setzen die Daten vielmehr zu standardisierten Datenblöcken zusammen, sogenannte grids. Digitale Unternehmen sammeln Daten und produzieren grids.
  • Grids beschreiben (rein instrumentell, mathematisch und abstrakt, ohne Bedeutungskontexte oder historische Bezüge) Muster menschlicher Kommunikation,  Interaktion und Kooperation.
  • Diese Grids (Musterbeschreibungen) können digital (in großem Stil und permanent) bearbeitet und weiter verarbeitet werden. Sie sind weit wertvoller, als reine Datensammlungen dies je sein könnten. Denn mit Hilfe von grids können menschliche Beziehungen nicht nur digital vermessen, sie können auch digital geformt und gestaltet (manipuliert) werden.
  • Auf der Grundlage von Grids kann die Valorisieren der Muster menschlicher Beziehungen vorangetrieben werden. Neue Produkte können designed und neue Märkte (Bedürfnisse) können geschaffen werden, von denen wir heute vielleicht noch gar keine Ahnung haben.

„…der Wert, der gegenwärtig den Unternehmen des digitalen Kapitalismus zugeschrieben wird“ nimmt „die Unterwerfung aller menschlichen Beziehungen unter die digitale Warenform voraus. In der Erwartung (Herausheben J.B.) solcher Verhältnisse liegt der spekulative Wert der Internet-Unternehmen gegenwärtig begründet“ schreibt der Journalist Thomas Steinfeld in der SZ (siehe unten).

Digitaler Kapitalismus – auf dem Weg zur totalen Marktwirtschaft?

 Der neue Goldrausch heißt „Gridrausch“. Der Kapitalismus zeigt seine Wandlungsfähigkeit und Innovationskraft und setzt im digitalen Kapitalismus zu einem qualitativer Sprung an. Im klassischen Kapitalismus der Moderne geht es darum, Ländereien, Bodenschätze, materielle Dinge und Gegenstände aller Art, Maschinen und menschliche Arbeitskräfte zu Waren zu machen und Märkte miteinander zu verbinden und zu erweitern.

Im digitalen Kapitalismus der Postmoderne kommt eine neue Dimension hinzu. Es geht nicht nur darum, die bekannten und bestehenden Prozesse zu intensivieren und zu optimieren (Industrie 4.o). Die Warenwirtschaft erweitert sich vielmehr um eine neue Dimension: hier geht es um die Vermessung menschlicher Lebenswelten – Innen- und Außenwelten – und ihre vollkommene Umwandlung in Märkte. Betancourt nennt das die „Kolonisierung sozialer Verhältnisse“. Der Körper: ein Markt. Das Bewusstsein: ein Markt. Die Seele: ein Markt. Menschliche Beziehungen: ein Markt!

Es geht dabei nicht länger „nur“ um die Anpassung des Menschen an die Ökonomie – etwa um den „flexiblen Menschen“ (Richard Sennet) oder um Geld und Macht, die als „Steuerungsmedien“ in die Kultur eindringen (Jürgen Habermas). Es geht vielmehr um die vollständige Verschmelzung und Durchdringung von Kommerz, Kultur, Politik, Psyche und  sozialen Beziehungen.

Eine Mega-Vision bestünde darin – alles wird (über elektronische Netzwerke) mit allem verbunden – beide Dimensionen und alle Märkte zu einem großen, globalen Markt zu verbinden. Der Traum von Jeff Bezos – eine Zivilisation auf dem Weg zur totalen Marktwirtschaft.

Bisher tendenziell eigenständige Bereiche wie das „Private“, das „Religiöse“, das „Soziale“ oder das „Kulturelle“ gehen im Markt auf. Sie verschwinden als autonome Kategorien. Die Trennungen zischen Menschen und Maschinen, sozialen, privaten und kommerziellen Beziehungen werden aufgehoben. Hinter dem Rücken der Kunden geht es um nichts weniger als um die vollständige kommerzielle und kulturelle Kolonisierung aller Lebenswelten.

Vielleicht ahnen wir es. Aber die meisten möchten sich gerne still verführen lassen. Ohne öffentliche Debatte, ohne politische Diskussion und ohne Abstimmung dehnt der digitale Kapitalismus sich hinter den freundlich blinkenden Displays insgeheim aus und erweitert seine Macht.

 Während wir als Konsumenten anscheinend frei in den Netzwerken surfen werden wir in Wahrheit insgeheim durch die neuen Markthallen geschleust. Als „User“ gleichen wir süchtigen Bären, die mit der Illusion, sie würden die Welt gestalten, am Honig-Tropf der digitalen Industrie durch die Manege gezogen werden.

 Der neue digitale Kapitalismus ist ein prächtiger und mächtiger Reiter auf dem Rücken von Konsum, Populismus und und Massengeschmack. Ein Reiter allerdings , der breite und tiefe Schatten wirft und einem das Gruseln lehren kann.

Kapitalismuskritik – Das exakte Leben – Kultur – Süddeutsche.de

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Über Jan Bleckwedel

Psychologe und Autor
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