Eine Nische im Teehaus. Irgendwo in Peking. Pflanzen, künstliche Teiche, Wassergurgeln, dampfender grüner Tee, exotische Nüsse, Früchte. Den Eingang zu diesem Club würdest du als Fremder nie finden. Refugium. Dorthin hat uns die chinesische Kollegin eingeladen. Wir sprechen über Familienleben in China. Die Mutter, die den Haushalt führt und auf das Kind aufpasst. Dann erzählt H. von ihrem ersten Auslandsaufenthalt auf Hawai.
Der Doktorvater – ein aus China stammender Amerikaner – verbietet ihr, seine Tasche zu tragen. Sie schildert, wie ihr das den Boden unter den Füßen wegreißt. Ein Professor, der die übliche, konfuzianische Form der Beziehungsgestaltung verweigert! Warum? Mag er sie nicht? Wie soll sie ihm jetzt Respekt erweisen? Was soll sie jetzt tun?
Sturz in tiefe Verwirrung. Orientierungsverlust. Ängste. Verzweiflung. Ganz langsames, allmähliches Auftauchen. Der Lehrer bleibt freundlich. Awakening. Plötzlich und unerwartet füllen sich die Augen der Kollegin mit Tränen. Dann sagt sie: „Dieser Professor war der erste Mensch, tatsächlich der erste Mensch in meinem Leben, der mir auf Augenhöhe begegnet ist„.
Ich bin sprachlos. Da sitzt diese kompetente, ziemlich taffe Kollegin vor mir, wir arbeiten gut und gerne zusammen, und all die Unterschiede scheinen nach einiger Zeit doch nicht so groß. Und jetzt das. Da öffnet sich unvermittelt ein Tor, das den Blick freigibt in eine ganz andere Welt. Eine Welt von der ich nichts ahne, nichts verstehe. Warum berührt dieser Moment den Chronisten so tief und nachhaltig? Vielleicht, weil er durch die Tränen für einen Augenblick ein Erleben spürt, in das er sich nur schwer hineinversetzen kann. Eigentlich garnicht. Allenfalls läßt sich annäherungsweise nachvollziehen, was da geschieht. Gleichzeitig erkennt der Chronist sein eigenes Erleben als das, was es ist: auch seine Welt ist eine wacklige Konstruktion, die, versetzt in eine andere kulturelle Umgebung, bedenklich zu wanken beginnt.
Wir nähern uns dem Fremden, indem wir seine Ferne aushalten, schreibt Bernhard Waldenfels in „Topos des Fremden“. Ob wir in die Ferne reisen, oder ob wir in die Ferne fliehen, ob wir das Fremde suchen, oder ob das Fremde zu uns kommt – Wir nähern uns dem Fremden, indem wir seine Ferne aushalten.
Das aber kann nur gelingen, wenn wir es dem Fremden erlauben, mit uns zu machen, was das Fremde eben mit uns macht: in dem einem Moment beflügelt es dich, in dem anderen läßt es dich grausen. Das Fremde zieht an und stößt ab, es fasziniert und macht Angst. Das Fremde ist gleichzeitig fern und ganz nah. Das Fremde bleibt immer mehrdeutig. Das Fremde kann dich tief hinab stürzen in deine eigenen Ängste, aber genau so gut kann es dich heraus reißen aus Stumpfsinn und Lethargie.
In jedem Fall wirft das Fremde dich auf dich selbst zurück, auf das Fremde in dir. Das macht neugierig und ängstlich. Fremdheit ist eine Mischung aus Faszination und Angst.
Du willst im Fremden sicherer werden? Dann brich auf, zieh aus, steig über die Mauer, spring über die Schatten der Monde und Sonnen, reiss die Wände ein, spring ins Feuer der Ungewissheit. Geh durchs Chaos aller Irrungen hindurch bis ans andere Ufer der Fremdheit. Einmal, zweimal, dreimal…Ohne das geht es nicht. Da musst du durch. Ohne Irritationen, ohne Verluste bleibst du ein Gefangener deiner Ängste.
die furcht vor der furcht
sich auf das fremde einzulassen
ist auch eine furcht vor dem fremdem
der fremden fremdenfurcht in dir
tauch ein in die freude, die trauer,
selbst, dir selbst, ein fremder zu sein
Mit etwas Glück kehrt der Fremde von seiner Begegnung mit dem Fremden als jemand zurück, der sich selbst ein bisschen besser versteht.
Lieber Jan,
da ich dich um deine globalen Erfahrungen hiermit ganz offen beneide- ich bin bekennender Provinzler- bin ich zugleich sehr froh, an solcherlei Erfahrungen teilnehmen zu können. Danke!
In meinem jetzigen Wohnort erlebe ich das Anders-Sein aber auch oft als sehr deutlich..
Lieben Gruß- bis bald!
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Lieber Joschi,
Danke! Gerade erlebe ich das Fremde als ganz wunderbar,
Inspirierend! Ich melde mich! Jan
Mysuru, India
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