Am Beginn einer globalen Zivilisationskrise
Ereignisse bestimmen nicht den Gang der Geschichte. Das Attentat von Sarajewo hat den ersten Weltkrieg nicht herbeigeführt. Und doch können ein paar Tage im breiten Strom der Geschichte Wendepunkte markieren.
Der 7. Januar 2016 in Paris hat für einen kurzen Moment ein Fenster aufgerissen, durch das wir Europäer sehen können, was auf uns zukommt. Der Krieg wird auch in unsere Städte, in unser Leben getragen. Wir werden unser Leben nicht mehr so leben können wie vorher. Ich liebe das leichte und lockere Leben, aber es wäre naiv und gefährlich zu glauben, einfach so weiter machen zu können wie bisher. Das Messer eines fanatischen Glaubenskriegers zuckt nicht zurück vor unserer Lebenslust und Empathie.
Der 9. November 2016 in den USA läutet unumgänglich ein neues Zeitalter ein. Eine historische Phase, in der die Geister des Totalitären weltweit strategisch in die Offensive gehen und die Dynamik dauerhaft bestimmen werden. Für uns, die wir die liberale Demokratie und die Werte, die sie tragen, lieben, weil wir sie für vernünftig halten, ändert das alles.
Wir werden uns für eine lange Zeitspanne strategisch in der Defensive befinden. Und wir werden, genauso wie die von den Populisten betrogenen Massen, lernen müssen, dass es kein einfaches ZURÜCK geben wird. Wir werden uns und die Gesellschaftsform, in der wir leben wollen, in diesem Kampf, der bitter wird, und dessen Ausgang ungewiss ist, neu erfinden müssen.
Das Jahrhundert des Autoritarismus, wie Ralf Dahrendorf es vor fast 20 Jahren vorhergesagt hat (als Folge der neoliberal inspirierten Globalisierung), hat begonnen. Ein Jahrhundert des weltweiten Kampfes um Werte. Ein Kampf dem keiner ausweichen kann. Der Siegeszug des Autoritarismus aber ist Ausdruck einer globalen Zivilisationskrise.
Politik aus der Tiefe des Irrationalen – it’s emotion, stupid
Der Sieg Donald Trumps ist keine Überraschung. Der Autor dieser Zeilen darf das sagen, weil er bereits im Juni darüber geschrieben hat. Das macht die Sache nicht besser, aber vielleicht die Argumentation überzeugender:
„Die liberale Öffentlichkeit, verschreckt, fassungslos, rätselt. Was ist da los? Wie kann so etwas verfangen? Ein Haufen durchgeknallter Egomanen, aufgeplusterter Kleingeister, charismatischer Psychopathen? Mehr oder weniger begabt. Lächerliche, obskure Knallchargen? Mit Programmen voller Ressentiments und Widersprüchen, ohne Details. Kein durchdachter, schlüssiger Plan. Zusammengeschusterte Weltsichten weit weg von der realen Wirklichkeit und vom einmal erreichten Konsens der Vernünftigen. Wo sind wir!
Aber die Geschichte lehrt, der Populist als Erlösungserzähler darf das alles sein: unbestimmt, widersprüchlich, wirklichkeitsfern, oberflächlich, ungerecht, absurd, aufgeblasen, kalkuliert skurril und durchgeknallt und hässlich und böse. Er muss genau so sein wie der Mob, wie das Dunkle in uns, um erfolgreich zu sein. Sportpalast. Im Populisten spiegelt sich der Mensch in der Menge, wie er es sich allein niemals traute zu sein – ohne anonymes Aufgehen in der Masse, ohne Zampano, der die Menge aufpeitscht. Der kalkulierte Tabubruch und die gezielte Provokation des liberalen Mainstreams gehört unbedingt dazu.
Dialektik des Irrationalen. Die Torheit, das wusste schon Erasmus von Rotterdam, kann eine Quelle von Vitalität und Kreativität sein. Der intelligente Populist setzt das Irrationale mit Kalkül ein. „Kein anderer als Silvio Berlusconi“, schreibt Thomas Assheuer in der Zeit (Ein autoritäres Angebot. 25.5.2016, S 43), „hat das rechte Betriebsgeheimnis ausgeplaudert, wonach Irrationalität und Unberechenbarkeit eine Gesellschaft besser zusammenschweißt als die demokratische Vernunft…Der Innovator ist umso origineller, je mehr seine Inspiration der Tiefe des Irrationalen entspringt.“
Ohne eine überzeugende Alternative zu einer Globalisierung unter radikal neoliberalen Vorzeichen werden Populisten jeder Coleur weiter auf der Woge der Empörung reiten und Ressentiments in Feindschaft verwandeln können.
Wer Lebenswelten zerstört und Menschen verhöhnt erntet Revolte
Die Idee des Neoliberalismus hat sich zur globalen Gewalt entwickelt und durchdringt die ganze Gesellschaft von oben bis unten, die Strukturen, das Denken, das Handeln und das Fühlen. Die frohe Botschaft: alles ist ganz einfach, ungezügelte Konkurrenz und befreite Gier bringen das Heil. Privatisierung. Deregulierung. Alle Macht dem Markt. Verkäufer und Konsumenten an die Macht. Der Kunde ist König. Gesundheit? Auf den Markt! Bildung? Auf den Markt! Soziales? Auf den Markt! Religion? Auf den Markt. Recht und Sicherheit? Auf den Markt. Wissenschaft? Auf den Markt! Kunst? Auf den Markt! Sport? Auf den Markt! Glück? Auf den Markt! Wasser und Luft? Auf den Markt! Keine Grenzen für den Markt! Dann regelt der Markt aus sich selbst heraus Alles zum Guten. Denn Märkte schaffen nicht nur Entwicklung, Wohlstand und Reichtum, sie sind am Ende des Tages auch gerecht. Gier ist gut und Geiz ist geil. Warum? Weil freie Märkte, wenn man ihre Selbstreinigungskräfte nicht durch unnötige Regeln stört, für mehr Wohlstand, mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit und mehr sozialen Frieden sorgen!
Das Gegenteil ist der Fall. In weiten Bereichen der Gesellschaft ist das Ergebnis ein Desaster. In Verbindung mit der pausenlosen Propaganda erleben die Menschen dieses „System“ als Hohn. Die neoliberal getriebenen Eliten treiben die Menschen durch die Konsequenzen ihres Tuns in die Arme der Populisten.
Das große Unbehagen
Natürlich ist der Neoliberalismus nicht allein verantwortlich für alle Leiden und Übel dieser Welt. Doch er bestimmt als zentrale Kontextbedingung, als weltweit wirksame Ideologie, die aktuelle Dynamik der Zivilisation entscheidend. Und die Ökonomisierung aller Beziehungen und Lebensbereiche hat enorme „Nebenwirkungen“ und Schattenseiten.
Es sind nicht nur die gewaltigen Umweltschäden oder die katastrophalen finanziellen Tsunamis, Ungleichgewichte und Unwuchten, die durch die neoliberale Ideologie zumindest begünstigt werden. Dieser Kapitalismus tötet, sagt Pabst Franziskus. Er schlägt die Menschen in die Flucht und lässt sie ertrinken. Nicht nur im Meer sondern auch in ihrer persönlichen Frustration. Der pure Ökonomismus erzeugt und hinterlässt vor allem eine breite Spur der Verwüstung in den Beziehungen der Menschen untereinander und in ihren Seelen. Eine zivilisatorische Katastrophe mit nachhaltiger Wirkung. Das Vertrauen schwindet und die Werte verfallen. In allen Kontinenten und allen Ländern, in allen Gesellschaften und in allen Schichten.
Der Kapitalismus schaltet den Turbo ein: Verdichtung von Arbeit, ständiger Wandel, permanenter Konkurrenzdruck von der Wiege bis zur Bahre, verbreitete Unsicherheit, was Morgen sein wird, das Gefühl, die Dinge nicht zu überblicken, Angst vorm Versagen, Angst vor dem Abstieg, der Verlust von Heimat in der Heimat, der Verlust von Heimat, Wanderarbeiten, Entsolidarisierung, Zunahme von Rüpelhaftigkeit und Gewaltbereitschaft, Zynismus, und eine grassierende schlechte Laune (Depressionen) angesichts einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint. Verlust von Bindung, Respekt, Vertrauen und Hoffnung. Dystrophe Phantasien.
Die Menschen fühlen sich in der Globalisierung nicht wohl. Ja es gibt Ersatzhandlungen und Ersatzerlösungen. Konsum, POP, Drogen, Medien, Sport, Wellness, Therapie. Aber die wirken nicht nachhaltig. Viele sind nicht glücklich, obwohl sie ständig darauf hingewiesen werden, dass sie es doch eigentlich sind oder sein sollten. Denn auch das gehört zur neoliberalen Ideologie: jeder ist seines Glückes Schmied allein. Mach was aus dir, dann wirst du glücklich sein. Oder umgekehrt, sei glücklich, dann wird was aus dir!
Ein seltsam gespaltenes Lebensgefühl breitet sich . Auf den Bühnen, vordergründig, stellen die Akteure sich eitler und massenhafter als jemals zuvor zur Schau (wie viel Spaß sie haben und wie toll sie sind, z.B. auf Facebook) – backstage, hintergründig, fühlen sich sehr viele diffus unwohl, unglücklich, unsicher, ängstlich, abgehängt, orientierungslos, betrogen, ohnmächtig, frustriert und wütend. Und das sind eben nicht nur die abgehängten „Vergessenen“ in Wisconsin oder Sachsen!
Der Kampf um die Grundwerte: Demokratie und soziale Marktwirtschaft
Europa gebar seine Werte und Stärken in unendlich langen und leidvollen Wehen, in barbarische Kriegen und blutigen Revolutionen. Nach dem 2. Weltkrieg schien, mit dem Sieg gegen den Faschismus, der Bann gebrochen. Historiker werden dereinst vom goldenen Zeitalter in Mitteleuropa sprechen. Doch die Zeit der „goldenen Generationen“ geht zu Ende.
Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz und Solidarität mit den Anderen und den Schwächeren, das ist keineswegs mehr selbstverständlich. Demokratische Rechte, Gewaltenteilung, unabhängige Justiz, freie Presse, Schutz der Individualität, Zivilgesellschaft, Gleichstellung und Schutz von Minderheiten – all das erwuchs im Westen erst allmählich aus den Trümmern des faschistischen Desasters, und im Osten erst durch den Zusammenbruch des „realen Sozialismus“. Das sollten wir nicht vergessen.
Machen wir uns nichts vor. In weiten Teilen der Welt werden andere Werte propagiert. Russland gehört dazu, China, die meisten islamisch dominierten Staaten, und jetzt auch Nordamerika. Und diese anderen, autoritären und totalitären, Werte werden jetzt auch in den europäischen Gesellschaften virulent. Und Europa droht zu zerbröseln. Wir werden für unsere Werte kämpfen müssen, weil sie aggressiv angegriffen werden. Aus einer Position der Schwäche. Mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, aber im Rahmen der Regeln, die wir uns, auf der Grundlage unsere Werte, selbst geben. Das wird schwer bei Gegnern, die zu allem entschlossen sind.