Die Krise der Glaubwürdigkeit

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Religiöser Fanatismus und politischer Populismus sind die Symptome einer tiefer gehenden Glaubwürdigkeitskrise.

 Klima, Umwelt, Ressourcen, sozialer Ausgleich, menschengerechte Lebenswelten, Sicherheit. Nur gemeinsame Anstrengungen können ein Überleben der Spezies sichern. Doch sehr viele Menschen glauben nicht mehr daran, dass diese Probleme im Rahmen der  bestehenden Systeme gelöst werden können. Unter ihnen viele ernstzunehmende Wissenschaftler.

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Dafür gibt es gute Gründe. Wer diese Gründe leugnet, vertieft die Glaubwürdigkeitskrise.

Religiöser Fanatismus und politischer Populismus sind Zeichen einer tief gehenden Glaubwürdigkeitskrise. In ihrem Kern Gewalt, Folter, Terrorismus und Krieg. Die Glaubwürdigkeitskrise zeigt sich (u.a) aber nicht nur hier. Sie zeigt sich auch darin, dass in den westlichen Demokratien nicht mehr Programme sondern Personen Wahlen entscheiden. Zu Helden werden diejenigen, die glaubwürdig nach Wahrhaftigkeit zu streben scheinen (Papst Franziskus,  der Dalai Lama).

Die Geschichte der globalen Glaubwürdigkeitskrise muss erst noch geschrieben werden

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Die Stichwortliste ist lang: Die Glaubwürdigkeitskrise der Politik, der Medien, der Wissenschaften, der Wirtschaft, der Banken, der Religionen. Die Geschichte, die Psycho-Historie, der globalen, umfassenden und tief gehenden Glaubwürdigkeitskrise wartet hingegen noch auf ihren Autor.


Versprechungen, die nicht eingehalten werden

Wahrscheinlich würde diese Geschichte im Europa des 20ten Jahrhunderts beginnen. In jedem Fall würde die Geschichte der Glaubwürdigkeitskrise von sozialen und politischen Verwerfungen berichten, die durch beschleunigten Wandel hervorgerufen werden, und sie würde von den sozialen und politischen Versprechungen (den großen Erzählungen) handeln, die nicht eingehaltenen, die verraten, oder in ihr Gegenteil verkehrt wurden.

Der Glaube an die Glaubwürdigkeit geht verloren

Wer Vertrauen zerstören will, der sollte Versprechungen machen und diese nicht einhalten. Das ist die beste Methode. Egal, ob im realen Sozialismus oder im realen Kapitalismus,  die großen Versprechungen – Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Glück, Frieden – wurden und werden im konkreten Alltag der Menschen nicht eingelöst. Eingehüllt in das Trommelfeuer der Propaganda und das Rauschen der Werbung, die das Gegenteil behaupten und versprechen, machen viele  Menschen die Erfahrung, dass ihre Hoffnungen und Träume enttäuscht, dass sie von den Eliten belogen, betrogen und ausgeraubt werden.

Die Wirkung (der Differenzerfahrung) ist fatal. Systemmüdigkeit oder Wut auf das System bilden nur das oberflächliche, sichtbare Ergebnis des systematischen Betrugs. Die Menschen verlieren den Glauben daran, ihre Hoffnungen und Träume innerhalb der bekannten Systeme realisieren zu können.IMG_4432

Viel schlimmer  ist, viel schwerer wiegt, viel tiefer wirkt: Die Menschen verlieren den Glauben an die Glaubwürdigkeit. Die Glaubwürdigkeit überhaupt. Wer dem Anderen nicht mehr trauen kann, traut auch sich selbst nicht mehr. Wahrheiten gehen unter. Wahrhaftigkeit – das Bestreben, die Wahrheit zu sagen, das Bestreben, zu tun, was ich sage, und zu sagen, was ich tue, die unvoreingenommene  Suche nach Wahrheiten –  erscheint überflüssig, ruinös, gefährlich.

 

 

Die gesellschaftliche Vernichtung von Vertrauen

Die gesellschaftlichen Bedingungen zersetzen das individuelle Urvertrauen (das uns allen durch die Erfahrung im Mutterleib mitgegeben wird). Man kann von der gesellschaftlichen Vernichtung von Vertrauen sprechen. Wo es aber kein Vertrauen, kein Urvertrauen mehr gibt, da beginnt die Barbarei. Ohne Vertrauen sind menschliche Gemeinschaften, sind Gesellschaften nicht überlebensfähig.

Wenn wir nicht aufpassen, versinkt die Menschheit im Chaos eines techno-medial getrieben Zeitalters der Gegenaufklärung.

Die Lösung der Glaubwürdigkeitskrise beginnt mit ihrer Anerkennung

 Es ist wie bei jeder Krise, wer sie leugnet, kann sie nicht lösen. Eine Krise kann nur zur Chance werden, wenn man sie anerkennt und annimmt. Es beginnt damit, zu erkennen,  dass wir uns in einer tiefen, globalen Glaubwürdigkeitskrise befinden. Und vieles spricht dafür, dass sich diese Krise der Zivilisation noch vertiefen wird.  Weil die Systeme und die Dynamiken, die zu dieser Krise führen, weiter bestehen und weiter wirken.

Das Mantra, dass doch alles (im Vergleich) (ganz) gut sei, oder innerhalb der bestehenden Systemgrenzen gut werden könne, ist ein Teil des Problems. Schaut man auf die Daten, ist das Mantra nicht glaubwürdig. Einfache Antworten auf komplexe Probleme – absolute, autoritäre, totalitäre Antworten bzw. Systeme (Erlösungserzählungen) – bringen ebenfalls keine Lösung, im Gegenteil, sie verstärken  die Probleme nachhaltig. Die Lösung der Glaubwürdigkeitskrise liegt weder im „Weiter-so“, noch in einer brachialen Umwälzung oder Retro-Bewegung. Lösungen liegen jenseits der bestehenden Systeme und Vorstellungen, out of the box. Gesucht sind (sogenannte) Lösungen 2. Ordnung, Lösungen also, die den Rahmen der bisherigen Vorstellungen verlassen und neue Ordnungen erlauben.

 

 Wer einen Weg aus der Krise der Glaubwürdigkeit finden will, muss die Bedingungen erforschen und verstehen, die zu zum Verlust von Glaubwürdigkeit und Vertrauen führen.

Einige Zusammenhänge offenbaren sich dem menschlichen Geist durch schlichte Logik. Man muss da nicht lange forschen. Ein Beispiel. Wenn überall von Steuergerechtigkeit gesprochen wird, dann aber ein Mann zum Präsident der europäischen Kommission gewählt wird, der maßgeblich am Bau einer Steueroase beteiligt war (was ist  Steuerhinterziehung gegen die Eröffnung einer Steueroase), und wenn es dann die EU nicht schafft, Steuerschlupflöcher für Milliarden-Konzerne zu schließen, dann fällt es selbst Wissenschaftlern schwer, sich zu wundern, warum das Vertrauen in die Institutionen und die massgeblich Beteiligten nachhaltig sinkt. Anders verhält es sich mit der Frage, wie es zu Systemen kommen kann, die eine solch krasse Produktion von Unglaubwürdigkeit durch Aussitzen überleben. Um das besser zu verstehen, müssten wahrscheinlich Politikwissenschaftler, Historiker, Ökonomen, Juristen, Soziologen und Psychologen fächerübergreifend eng zusammenarbeiten, um eine komplexe Theorie zu entwickeln, die in der Lage wäre, dieses Phänomen zu entschlüsseln.

Bis dahin könnte man einfach mal mit Wahrhaftigkeit beginnen. Vielleicht könnte dabei ein jährlicher Glaubwürdigkeitsbericht helfen (wie beim Wald, beim Wasser, der Ozonschicht oder der Armut). Ein Glaubwürdigkeits-Score für Personen des öffentlichen Lebens, Staaten, Institutionen und Firmen könnte ebenfalls nützlich sein, um das Streben nach Wahrhaftigkeit zu fördern und Vertrauen aufzubauen.

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Über Jan Bleckwedel

Psychologe und Autor
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