Das spricht mir aus der Seele: Anstand, von Axel Hacke
Über das Anständigsein habe ich, ehrlich gesagt, nie besonders nachgedacht, es war mir immer etwas selbstverständlich Gutes.
Anständig zu sein bedeutet, so fand ich, Rücksicht auf andere zu nehmen, und zwar auch dann, wenn einem gerade nicht unbedingt danach zumute ist, also: in der Trambahn für ältere Menschen aufzustehen, auch wenn man selber müde ist; einen kranken Freund zu besuchen, auch wenn man eigentlich keine Zeit hat; sich in einer Schlange nicht vorzudrängeln, auch wenn man es eilig hat …
Einfache Dinge, zunächst.
Sich nicht selbst in den Vordergrund zu stellen, sondern zu bedenken, dass andere Menschen nicht weniger Rechte im Alltag und im Leben haben als ich. Nach Möglichkeit zu überlegen, welche Folgen das eigene Verhalten für andere haben kann. Sich an die Regeln auch dann zu halten, wenn gerade keiner guckt. Ich empfand es immer als großes Lob, wenn jemand über einen anderen sagte: Das ist ein anständiger Kerl. Offen gestanden glaubte ich, dass die meisten Menschen ein Gefühl dafür in sich tragen, einen gewissen Sinn dafür, wie es ist, nicht allein auf der Welt zu sein, und was man dafür tun muss, dass man vernünftig mit anderen zusammenlebt.
Ich glaube es immer noch.
Es schwappt ja seit einer Weile nicht bloß eine Woge der Anstandslosigkeit um die Welt – es tobt ein Ozean. Wir leben, dies nur als erstes Beispiel, in einer Welt, in welcher der Verlust jedes menschlichen Anstands einen Mann nicht daran gehindert hat, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zu werden.
Wir leben auch sonst inzwischen mit vielem, das eigentlich unerträglich ist.
Der sogenannte Shitstorm, den mancher Prominente – nach vielleicht nicht besonders klugen oder etwas voreiligen Äußerungen – über sich ergehen lassen muss, ist ein Ereignis, das uns vor nicht langer Zeit noch sprachlos gemacht hätte vor Entsetzen. Der Ton, der in vielen Internetforen herrscht, die Beleidigungen und Lügen, die dort Alltag geworden sind – man hat sich daran gewöhnt.
Und was ist mit diesem unbegreiflichen Ausmaß an Schäbigkeit, das wir auf den öffentlichen Plätzen sehen, bei jenen Leuten zum Beispiel, die im Jahr 2015 ungestraft Galgen für Angela Merkel und Sigmar Gabriel durch Dresden trugen?
Oder was mit dem jüngeren, gut gekleideten Mann, der mit seiner Limousine schnittig um die Ecke biegt, haarscharf an einer Mutter (einer guten Bekannten von mir) mit ihren zwei Kindern vorbei, die auf dem Zebrastreifen bei Grün über die Straße gehen – und der, als die Mutter auf die für Fußgänger grüne Ampel zeigt, die Scheibe herunterlässt und sagt: „Halt’s Maul, Schlampe!“
Gewiss, man kann nicht alles in einen Topf werfen, Rohlinge aller Art hat es schon immer gegeben und wird es auch immer geben.
Aber es ist doch im Moment so, dass jeder eine solche Geschichte zu erzählen hat, oder? Und es könnten am Ende zu viele Geschichten von dieser Sorte sein, nicht wahr? Und die Frage wäre: Warum brechen sich derartige Dinge Bahn in einer reichen Gesellschaft wie unserer?
Ein Leser schrieb mir, der Verlust des Anstandes beschäftige ihn sehr: „Wenn man heute sagt: ‚Das tut man doch nicht!‘, dann kommt die Antwort: ‚Wieso, das ist doch legal.‘ Meiner Meinung nach wird es Zeit, diese weichen Werte näher zu beleuchten. Sie sind es, die unser Leben lebenswert machen, nicht die Gesetze.“
Michelle Obama hat – ihr Mann war noch im Amt – im Herbst 2016 in einer berühmt gewordenen Rede einmal an die grundlegenden Regeln menschlichen Anstands erinnert, the basic standards of human decency.
Aber wie lauten die genau?
Fast jedem, den ich frage, fällt etwas anderes dazu ein.
Ein Freund, der die Zeugnisse seines Sohnes an einem bayerischen Gymnasium betrachtete, fand darin den Satz: „Er hat sich immer anständig verhalten.“ Was das nun wieder solle, fragte er, so ein verstaubtes Wort. Es klinge nach den fünfziger Jahren, nach einem Satz, den er als Kind zu oft gehört habe: „Benimm dich anständig! Setz dich anständig hin!“
Ein anderer erregt sich sofort darüber, dass Uli Hoeneß wieder Präsident des FC Bayern geworden sei, ein Krimineller, der sich nicht schäme, ein solches Amt zu bekleiden. Auf meinen Einwand, er habe seine Strafe doch verbüßt und sei ein Mensch, der sich vielen gegenüber sehr anständig verhalten habe, höre ich: Dennoch hätte er wissen müssen, dass man sich nach einer solchen Tat zurückzuziehen hat.
Ein Dritter erzählt von seiner Frau, die (in Gegenwart ihres Vierjährigen) im Kindergarten von einem Vater mit unflätigen Beleidigungen überschüttet wurde, bloß weil sie ihn darauf aufmerksam machte, dass sein Sohn ganz offensichtlich an einer ansteckenden Krankheit leide, und ihn höflich fragte, ob es für alle Beteiligten nicht besser wäre, wenn sein Kind zu Hause bliebe.
Was ist das denn nun tatsächlich: Anstand?
Oder: Was könnte es sein?
Der faire Radrennfahrer
Dazu eine einfache Geschichte: Bei der Tour de France 2003 führte die 15. Etappe zu einer Berg-Ankunft in Luz Ardiden, einem Skigebiet in den französischen Pyrenäen. An der Spitze fuhren der Amerikaner Lance Armstrong, der Deutsche Jan Ullrich und der Baske Iban Mayo. In einer Rechtskurve streifte Armstrong das Spalier der Zuschauer, verhakte sich mit dem Bremshebel in der Plastiktüte eines Mannes aus dem Publikum, stürzte und riss Mayo mit.
Ullrich hatte zu diesem Zeitpunkt in der Gesamtwertung nur 15 Sekunden Rückstand auf den führenden Armstrong. Er hätte, wäre er einfach weitergefahren, diesen Rückstand verkürzen, möglicherweise aufholen können. Aber er blieb stehen.
Er wartete, bis beide Konkurrenten weiterfahren konnten – Armstrong nutzte die Situation daraufhin aus und zog das Tempo an, der irritierte Ullrich konnte nicht mithalten. So gewann Armstrong die Etappe und die ganze Tour. Ullrich hingegen wurde das Opfer seiner eigenen fairen Geste.
Wie paradox! Später wurden beide Radrennfahrer – die größten ihrer Zeit – als Dopingsünder entlarvt. Armstrong verlor seine Toursiege, sie wurden ihm aberkannt. Beide sind heute, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb, „zwei Zerschmetterte“. Und dennoch: In dieser einen ikonischen Geste des Wartens auf einen Gestürzten und dem Verzicht, dessen Pech zum eigenen Vorteil auszunutzen, zeigte sich ein tiefes Verständnis dafür, dass der eine den gleichen Kampf führt wie der andere, dass man ihn mit denselben Voraussetzungen führen möchte und vor allem: dass es Werte gibt, die über denen des Besserseins, des Triumphs stehen.
Wäre es bloß nicht nur hier so gewesen! Doping war damals üblich im Radsport, würden nun beide antworten, nehme ich an. Aber darum gerade geht es: dass man auch beim Üblichen nicht mitmacht, wenn es unanständig ist.
Allerdings dürften die meisten von uns mit „Anstand“ allerhand Alltäglichkeiten assoziieren, simple Benimmregeln, Manieren: Man schlürft seine Suppe nicht, man hält einer Dame die Tür auf – alles Dinge, an denen nichts Falsches sein muss, im Gegenteil. Irgendwann wird in diesem Zusammenhang der Name Knigge fallen, und dann ist man vom Wesentlichen weg und endgültig bei Messer, Gabel und Serviette.
Aber darum geht es hier nicht, und darum ging es schon Adolph, dem Freiherrn von Knigge, nicht allein – das ist es ja. Der nannte sein Buch, das 1788 in der ersten Auflage erschien (und danach, oft verändert, bearbeitet und geradezu entstellt, immer wieder): Über den Umgang mit Menschen. Genau davon handelte es.
Knigge war es um Menschenbildung zu tun, er schrieb in Zeiten, in denen das Bürgertum dem Adel als neue, gesellschaftlich maßgebende Schicht gegenübertrat. Er wollte „die sittliche Vervollkommnung des Bürgers zum wahrhaft vorbildlichen Menschen befördern helfen“, wie es der Germanist Gert Ueding formuliert. „Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen“, schrieb Knigge, „so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind. Das heißt: ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.“
Weltklugheit – ist das nicht schön?
Ja, das ist es, und mindestens genauso wichtig ist die Rede von „allen Arten von Menschen“, womit wir schon beim Kern der Sache wären: einen Anstand, den man glaubt, nur bei bestimmten Menschen wahren zu müssen, gibt es nicht.
Der Philosoph Dieter Thomä hat die Auffassung Immanuel Kants zu diesem Thema untersucht. Kant stand, liest man in Thomäs Aufsatz, dem Anstand zu Beginn seiner Vorlesungen in Königsberg offenbar weit kritischer gegenüber als später, er hielt ihn zunächst für bloße Anpassung an oberflächliche Regeln, für platten Konformismus.
Diese Haltung kennen wir auch heute noch, denn Anstand ist, so gesehen, eine Art sozialer Schmierstoff, der jede beliebige Gesellschaft zum Funktionieren bringt. Es hat Zeiten gegeben, so Thomä, „in denen derjenige als unanständig galt, der ohne Hut über die Straße ging, und derjenige als anständig, der seine Kinder regelmäßig mit Prügelstrafen disziplinierte“. Hat nicht Heinrich Himmler 1941 seiner Tochter ins Poesiealbum geschrieben: „Man muss im Leben immer anständig und tapfer sein und gütig“? Ja, hat er. Hat er nicht 1943 in seinen beiden Posener Reden, in denen er die Vernichtung der europäischen Juden als Großtat rühmte, SS-Männern den Anstand gepredigt, ja sie als anständige Menschen gepriesen? Hat er auch.
Man sieht: „Vieles von dem, was unter Anstand firmiert, ist gerade darauf angelegt, eine gewisse Unschärfe oder Verschwommenheit zu erzeugen: Von irgendeinem Verhalten heißt es, dass es sich so gehöre.“ (Thomä)
Später dann zog Kant als Beispiele für Anstand solche heran, denen ein eigener moralischer Gehalt innewohnt: Leutseligkeit, Freimütigkeit, Freundlichkeit, Höflichkeit, Gesprächigkeit, „sie alle“, schreibt Thomä, „regulieren nicht nur ein gesetzmäßiges Verhalten, sondern kennzeichnen ein menschenfreundliches Miteinander“. Er kam damit zu einem anderen Verständnis, bei dem es weniger um Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und um formale Vorschriften geht, sondern um schlichte menschliche Zuwendung, um „Teilnehmen an dem Schicksal anderer Menschen“ (Kant).
Die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens
Das ist genau der Punkt, den der eingangs zitierte Leser meinte, wenn er von den „weichen Werten“ schrieb. Denn heute haben wir, so Thomä, auf der einen Seite eine weitgehend Gesetzen folgende, „durchaus auch moralisch ambitionierte Gesellschaftsordnung“, auf der anderen das Handeln vieler Einzelner, denen es nicht um diese Ordnung gehe, sondern um die maximale Ausnutzung persönlicher Spielräume und die Verteidigung der eigenen Ungebundenheit. Der Zusammenhalt einer modernen Gesellschaft aber stehe und falle genau mit dem, was dazwischen ist, dem „Zwischenreich, in dem Individuen sich miteinander arrangieren, aufeinander einlassen und aneinander wachsen“.
Reden wir aber von Zu- statt Abwendung, von Teilnahme anstelle von Ablehnung, dann geht es um die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens dort, wo dieses Zusammenleben von Wille und Ziel des Einzelnen ausgeht. Es geht um Fragen, die jeder sich stellen muss – und auch darum, dass man sich bestimmten Dingen mitunter widersetzen muss. Etwa dem, was viele andere tun, was sie automatisch tun, ohne Nachdenken, dem genetischen Funktionieren sozusagen, vielleicht? Beschäftigen wir uns, wenn wir uns mit dem Anstand beschäftigen, nicht mit dem Prozess der Zivilisation?
Und nun diese Frage: Fehlt uns nicht sowohl im täglichen Lebensgewurstel als auch in der aktuellen politischen Situation, in der wir uns befinden – in dieser für uns sehr lange nicht da gewesenen Herausforderung durch Populisten und Demokratiefeinde also –, etwas von einem gewissen Pathos, einer klar formulierten Vision dessen, wie wir als Einzelne im Leben mit anderen umgehen wollen?
Fehlt uns das nicht schon lange?
Wir haben in vieler Hinsicht das Gefühl dafür verloren, was es bedeutet, eine Gesellschaft zu sein, zusammenzugehören, sich auseinanderzusetzen, wir haben so oft kein Ideal mehr davon, was es bedeutet, ein Bürger zu sein, wir sind getrieben von der technischen Entwicklung, von der Nötigung zur ständigen Selbstdarstellung, von diffusen Ängsten, die wir uns einerseits nicht eingestehen oder andererseits total übertreiben. Wir sind hysterisch, wo wir nüchtern sein müssten, und unaufmerksam, wo wir wachsam sein sollten.
Jedenfalls kann ich, zum Beispiel, nicht verstehen, wie es möglich ist, dass Mark Zuckerberg, der Gründer und Hauptanteilseigner von Facebook, sich selbst immer wieder als Menschenfreund und Visionär eines besseren Lebens feiert, während seine eigene Firma sich schamlos dazu benutzen lässt, die Grundlagen unseres Zusammenlebens zu unterminieren, um es zugespitzt zu sagen.
Fast jeder Deutsche kannte im Jahr 2015 das Foto, das den syrischen Flüchtling Anas Modamani zusammen mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigt, beide gemeinsam posierend für ein Selfie. Dieses freundliche Foto wurde anschließend von radikalen Hetzern immer wieder für deren Zwecke benutzt. Sie montierten es zusammen mit Fotos von Terroristen; sie behaupteten, Modamani sei der Attentäter von Brüssel, Ansbach, Berlin; er habe mit anderen Flüchtlingen versucht, einen Obdachlosen anzuzünden.
Alles erlogen.
Trotzdem standen die infamen Fotomontagen weiter online, und das Landgericht Würzburg lehnte einen Antrag des Betroffenen auf einstweilige Verfügung ab, der Facebook verpflichten sollte, diese Bilder von sich aus zu suchen und zu löschen, also nicht nur auf die jeweilige Beschwerde hin. Modamani verzichtete danach auf weitere rechtliche Schritte: Zu groß sei das finanzielle Risiko, zu gefährlich der Prozess für die Familie in Syrien und auch in Deutschland.
Warum begann Facebook erst so spät wenigstens mit dem Versuch, den gröbsten Schmutz auf seinen Seiten – die live übertragenen Suizide und Quälereien von Menschen und Tieren – zu beseitigen? Warum richten sie im Unternehmen nicht deutlich mehr von jener Energie, mit der sie die Technik optimieren, auf die Beseitigung des Drecks auf den eigenen Seiten? Warum hat es bis zum Jahr 2017 gedauert, dass der deutsche Gesetzgeber Maßnahmen zu ergreifen begann? Warum nehmen wir stumm hin, dass ein großer Teil unserer sozialmedialen Infrastruktur an eine Firma ausgelagert ist, deren Manager, Strukturen, Abläufe kaum jemand kennt?
Sind wir verrückt geworden, dass wir das so lange akzeptiert haben?
Jetzt versucht man, dem mit Gesetzen zu begegnen. Das mag richtig sein oder falsch, es ist nicht unser Thema. Hier geht es um das Zusammenleben da, wo es eben nicht durch Gesetze geregelt wird, sondern durch das Verhalten jedes Einzelnen. Es geht um Rücksicht und Sich-zurück-Nehmen, um ungeschriebene Regeln, die man sich selbst gibt, um die Kontrolle unserer Steinzeitimpulse, um so etwas wie Wachsamkeit gegenüber dem Tier in uns. Das kann man als Anspruch an sich selbst empfinden und sollte es auch. Wenn wir vom Anstand reden, sollten wir weniger von anderen reden und mehr von uns selbst.
Könnte es bei diesen vielen Warum-Fragen also darum gehen, dass uns eben die Antworten nicht wirklich wichtig sind? Dass für uns die Selbstinszenierung in den sozialen Medien, das immerwährende Ich-Ich-Ich, das ständige Performen, die dauerhafte Arbeit am eigenen öffentlichen Selbstporträt von größerer Bedeutung sind als die Frage, was die sozialen Medien in dem Bereich anrichten, für den sie doch eigentlich da sein sollten: dem sozialen Leben nämlich?
Das rücksichtslose Machtgebaren
Eine der gruseligsten Szenen im amerikanischen Wahlkampf 2016 sahen wir im Oktober, während der zweiten Fernsehdebatte zwischen Donald Trump und Hillary Clinton. Jeder der beiden hatte seinen Platz im Studio. Hillary Clinton redete, und plötzlich tauchte Trump hinter ihr auf, er hatte seinen Platz verlassen und tigerte durch die Szenerie, physisch bedrohlich, auf animalische Art aggressiv – und vor allem die Aufmerksamkeit von Clinton abziehend: auf sich.
Ähnliches wiederholte sich im Mai 2017 beim Nato-Gipfel in Brüssel. Trump schob sich in einer derart abstoßenden Weise ins Bild, wie man es nie zuvor gesehen hatte: Von hinten kommend, drückte er den montenegrinischen Premierminister Duško Marković wie einen lästigen Zaungast beiseite, um sich danach in der ersten Reihe das Sakko zu richten und triumphierend das Kinn reckend in die Runde zu blicken – eine Geste, wie sie selbst einem Gorillamännchen zu blöd gewesen wäre.
Dieses Verhalten ließ jeden Anstand vermissen und war gerade deshalb so erfolgreich. Es strahlte rücksichtsloses Machtgebaren aus und das Gefühl: Ich verschaffe mir in jedem Fall die Aufmerksamkeit, die ich will und die ich brauche. Und vor allem darum ging es wohl auch denen, die Trump wählten: die Aufmerksamkeit zu bekommen, die sie wollten, brauchten, vermissten. Damit waren sie bei ihm am Richtigen.
Trump mag ein chronischer Lügner sein, ein Mann, unfähig zu jeder Art intellektueller Gedankenführung, dazu entsetzlich selbstbezogen. Aber er weiß, wie man es anstellt, nicht übersehen zu werden, und wie man sich Gehör verschafft.
Und um dieses Sich-Gehör-Verschaffen ging es und geht es, ganz offensichtlich. Trump haben jene gewählt, die sich vergessen fühlten und das womöglich auch waren. Für den Brexit haben unter anderem die gestimmt, die in den verarmten nordenglischen Städten irgendwann das Gefühl hatten, niemand zolle ihnen auch nur den geringsten Respekt. Für Marine Le Pen, eine chronische Lügnerin und Demagogin, stimmten solche, die das Gefühl beschlichen hatte, für ihre Art zu leben bestehe im Land kein Interesse. Ihr Kreuz bei der AfD machen Menschen, deren Ängste anderswo keinen Ausdruck finden.
Es ist aber wichtig, zu verstehen, dass der Mensch ein tiefes Bedürfnis danach hat, dass andere ihm zuhören. Er braucht Aufmerksamkeit, er will auch Aufmerksamkeit geben, nur im Austausch mit anderen kann er existieren. Der Mensch möchte von anderen wahrgenommen werden, weil er nur über diese Wahrnehmung ein Gefühl für sich selbst bekommt. Wir sind nichts, wenn wir „auf der Bühne des Bewusstseins der anderen“ keine Rolle spielen, das ist „eine anthropologische Konstante“.
Dieses Zitat stammt aus dem Buch Ökonomie der Aufmerksamkeit des Architekten, Philosophen und Ökonomen Georg Franck, das Ende der neunziger Jahre erschien. Alle sozialen Tiere, so Franck, verbringen einen großen Teil ihrer Zeit damit, sich gegenseitig zu beobachten, und deshalb sei „Aufmerksamkeit anderer Menschen die unwiderstehlichste aller Drogen“.
Es geht, wenn wir vom Anstand reden, weniger um Moral. Moral dient heute zu vielen Menschen in zu vielen Fällen nur der Selbsterhöhung, dem Sich-besser-als-andere-Fühlen, dem Herabschauen, Sich-Abgrenzen, sogar der Verachtung. Auch bedient sie eine Sehnsucht, nämlich die nach Reinheit, die es nicht geben kann. Viel wichtiger ist es, zu begreifen, dass man sein Leben sinnvoll nur führen kann, wenn man bereit ist, eine ganze Reihe von Widersprüchen zu ertragen, weil es anders nicht geht. In bestimmter Hinsicht hat selbstgefälliges Moralisieren die Probleme erst hervorgerufen, mit denen wir es heute zu tun haben.
Es geht zunächst um den realistischen Blick auf uns selbst. Der Mensch ist offensichtlich nicht das primär rationale Wesen, als das wir ihn gerne hätten, im Gegenteil. Wir sind Herdentiere, die über ihre genetischen Dispositionen geradezu unbegreiflich weit hinausgewachsen sind.
Autoren wie Yuval Harari (Eine kurze Geschichte der Menschheit) und Kwame Anthony Appiah (Der Kosmopolit) haben ausführlich dargelegt, dass unsere wichtigsten Prägungen aus jenen Zehntausenden von Jahren stammen, in denen unsere Vorfahren in kleinen Gruppen lebten, für die jeder Fremde eine potenzielle Bedrohung war. Es ist klar, dass wir heute so nicht mehr leben können. Aber ebenso offenkundig ist, dass wir diese Prägungen in uns tragen und mit ihnen umgehen müssen. „Der Gedanke, sich im eigenen Land fremd zu fühlen, löst eine Urangst aus“, schrieb Richard Schröder, ein Theologe und Philosoph, der 1990 für die SPD in der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR saß und dann im Bundestag. „Diese Urangst ist weder faschistisch noch rassistisch. Sie ist auch nicht unanständig, sondern für unsere absehbare Zukunft unbegründet.“
Menschen haben Angst, auch vor Fremden. Menschen wollen Respekt. Menschen möchten wahrgenommen werden. Man ist kein besserer Mensch, wenn man keine Angst hat, weil man vielleicht eine Kindheit hatte, in der sich dieses Gefühl nicht einbrannte. Wenn man Respekt nicht braucht, weil man genug bekommt. Wenn man sich nach Wahrnehmung nicht sehnen muss, weil man im eigenen Leben sehr spürbar von anderen wahrgenommen wird.
Woran man sich aber erinnern sollte: Menschen können nur im Zusammenleben mit anderen existieren, und diesem Zusammenleben gilt es, Aufmerksamkeit zu schenken. Unsere Gesellschaft tendiert dazu, das zu vergessen. Wir ziehen uns in die Sicherheit der eigenen sozialen Schicht zurück. Wir verlieren uns in der Arbeit an der eigenen Performance. Wir basteln immerzu am Ego und viel zu selten am Wir.
Wer Gier belohnt
Ein Beispiel: Früher musste man einer allgemeinen Wehrpflicht nachkommen, die dazu führte, dass auch jeder von uns Gymnasiasten einige Monate seines Lebens die Kasernenstube mit Männern seines Alters teilen musste, die nicht von der eigenen gesellschaftlichen Herkunft und dem eigenen Bildungsstand waren, aber mitunter anständigere Kerle als so mancher Upperclass-Sohn aus der alten Oberschule. Und wenn man den Wehrdienst verweigerte, dann hatte man einen längeren Zivildienst vor sich, in dessen Verlauf man mehr über das Leben lernte, als es jenen vergönnt ist, die heute gleich nach dem Abitur in die Hörsäle eilen, um dann möglichst bald dem Wirtschaftsleben ganz zur Verfügung zu stehen.
Wie wäre es mit dem in Vergessenheit geratenen Gedanken, dass einer Gesellschaft nur angehören kann, wer ein Opfer für sie zu bringen bereit ist?
Es ist mir komplett unbegreiflich, wie es möglich war, dass die Wehrpflicht sang- und klanglos ausgesetzt wurde, ohne dass machtvoll deren Ersetzung durch einen zivilen Dienst für jede und jeden verlangt worden wäre, auf dass nicht das Gefühl verloren gehe, dass wir in diesem Land und in dieser Welt gemeinsam existieren.
Ich kenne eine alte Dame, weiß Gott nicht wohlhabend, die hatte 5.000 Euro auf der hohen Kante, für den absoluten Notfall. Das Geld lag auf dem Sparbuch, aber eines Tages fragte die Bankberaterin: Warum lassen Sie das dort, es gibt doch gar keine Zinsen mehr dafür? Und die alte Dame hörte auf die Frau und kaufte ein Anlageprodukt, das der Verkäuferin einen Bonus einbrachte und der Bank einen Verkaufszuschlag. Nur ihr, der alten Dame, brachte es nichts – außer Verlust. Denn aus den 5.000 Euro waren nach zwei Jahren 2.500 geworden. Alles ganz legal.
Natürlich kann man sich jetzt auf den Standpunkt stellen, dass in unserer Gesellschaft jeder für sich selbst verantwortlich ist, solange sich alle im Rahmen des Rechts bewegen. Aber genau das war es doch, was der eingangs erwähnte Leser meinte: Es gibt Dinge, die sind erlaubt, und man unterlässt sie trotzdem, aus einem ganz persönlichen Empfinden heraus – auch als Angestellte einer Bank. (Und noch viel mehr als Manager eines Autokonzerns.)
Nur ist diese Meinung selten geworden. Was soll man den Leuten auch sagen angesichts von Fällen wie dem jener Ethikbeauftragten des VW-Konzerns. Diese Trägerin des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern und Schulterband und frühere SPD-Politikerin verließ 2017 den Volkswagen-Vorstand, in dem sie für „Integrität und Recht“ zuständig gewesen war, nach 13 Monaten mit einer Abfindung von 12,5 Millionen und einer lebenslangen Monatsrente von 8.000 Euro, zahlbar schon ab dem 1. Januar 2019. Derselbe Konzern überwies seinen Vorstandsmitgliedern nach dem Jahr 2015, dem Jahr des Dieselskandals, in dem der größte Verlust der Konzerngeschichte zu verbuchen war, immer noch Erfolgsvergütungen in Millionenhöhe.
Wenn es „die da oben“ mit ethischen Prinzipien nicht so genau nehmen, warum sollten es die da unten tun? Wer Gier belohnt, muss wissen, wohin das führt.
Albert Camus schildert in seinem berühmten Roman Die Pest (1947 erschienen) den Verlauf eines Ausbruchs der Seuche in der Stadt Oran an der algerischen Küste, einem anfangs ahnungslosen Ort, in dem plötzlich die Ratten sterben, dann schnell auch die Menschen. Bald sind alle todgeweiht, die Tore werden geschlossen, Tausende fallen der Epidemie zum Opfer. Doch einige kämpfen dagegen, der Arzt Rieux und der Pater Paneloux zum Beispiel.
Rieux ist die Hauptfigur des Buchs und – wie sich am Ende herausstellt – auch der Autor jener Chronik der Ereignisse in Oran, als die der Roman verfasst ist. Er kämpft gegen die Pest als eine Schicksalsmacht, doch eigentlich ist er machtlos gegen all das Dunkle und Lähmende. Dennoch kämpft er weiter und führt über diesen Kampf eine Diskussion mit dem Journalisten Rambert. Es geht um Liebe, Tod, Heldentum. Rieux findet, bei seinem Kampf gehe es nicht um Heldentum: „‚Es handelt sich um Anstand. Das ist eine Idee, über die man lachen kann, aber die einzige Art, gegen die Pest anzukämpfen, ist der Anstand.‘
‚Was ist Anstand?‘, sagte Rambert, plötzlich ernst.
‚Ich weiß nicht, was er im Allgemeinen ist. Aber in meinem Fall weiß ich, dass er darin besteht, meinen Beruf auszuüben.'“
Rieux ist Arzt. Ein Arzt will das Leiden seiner Mitmenschen beseitigen oder doch lindern, er hat die Mittel dazu, diese Mittel nutzt er. Er tut das, weil ihn das Leid anderer nicht kaltlässt, es berührt ihn, weil er mitleidet, weil er eine grundsätzliche Solidarität mit anderen Menschen empfindet – und diese Art von Solidarität ist es wohl, die wir mit dem Begriff, um den es hier geht, verbinden sollten: ein Empfinden dafür, dass wir alle das Leben teilen, ein Gefühl, das für die großen Fragen des Lebens ganz genauso gilt wie für die kleinen, alltäglichen Situationen.
Es geht, wenn wir vom Anstand reden, um die Essenz des Menschen, um das Zusammenleben als Einzelner mit anderen – und dieses Zusammenleben bedeutet nicht, gegen andere anzukämpfen, sondern etwas für sie zu tun.
Schrieb nicht Knigge über den Umgang mit Menschen, er müsse auf den „Lehren von Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind“? Das klingt für mich deshalb gut, weil es nicht schlecht sein kann, etwas von sich selbst zu verlangen, eine Menschenpflicht zu empfinden, vielleicht diese: hinter sich zu lassen, was in anderen Jahrtausenden wichtig war fürs Überleben, jetzt aber nicht mehr wichtig ist. Hinauszuwachsen über die Instinkte, die unmittelbaren Gefühle, die Bequemlichkeit und Faulheit und Neigung zur Seelendummheit, über alle Standardeinstellungen. Zu dem zu finden, was dem Menschen auch gegeben ist, was er aber bisweilen erst in sich suchen muss: das Verstehen und den Verstand, alles, was er an Größe in sich trägt.
Und „allen Arten von Menschen“, bitte, das gefällt mir besonders: dass nicht nur von denen die Rede ist, die uns ähnlich sind, die wir mögen, mit denen wir sympathisieren, die unsere Ziele teilen, die ein Leben führen, das aussieht wie unseres. Sondern auch von den Feigen, den Verängstigten, den Unverschämten, den Dummen, den Lauten, den Leisen, den Störrischen, den Fremden, denen wir etwas schulden. Was schulden wir ihnen? Jedenfalls den Versuch, zu verstehen, Anerkennung, Rücksicht, Wohlwollen, Freundlichkeit, Interesse, Zugewandtsein und jene Solidarität, die Grundlage dessen ist, was wir den menschlichen Anstand nennen könnten.
Der eine Sache jedes Einzelnen ist und damit eine Sache von uns allen.
AXEL HACKE
61, ist Journalist und Schriftsteller. Bekannt wurde er mit seinen Kolumnen im SZ-Magazin. Sein neuestes Buch Über den Anstand erscheint im Kunstmann-Verlag.
Mir spricht er auch aus der Seele!
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