Bewältigungsmuster und Sinn-Konstruktionen im Krisenmodus – und wie wir damit psychologisch klug umgehen könn(t)en

Bewältigungsmuster und Sinn-Konstruktionen bilden einen zusammenhängenden Komplex. In Krisensituationen tritt dieser Komplex in seinem ganzen Facettenreichtum besonders hervor. Wie gehen wir psychologisch angemessen mit den zu Tage tretenden Unterschiedlichkeiten in der Bewältigung und Sinngebung einer unerwartet auftretenden Krise um? Einer Krise, die alle uns bekannten Dimensionen sprengt und einer Fahrt ins Ungewisse gleicht?

Blühende Vielfalt

Vieles scheint jetzt auf den ersten Blick ähnlich, egal wohin man blickt: Quarantäne, soziale Distanzierung, virtuelle Kommunikation. Eine sozial-psychologische Sichtweise zeigt allerdings ein viel bunteres Bild: Wir alle greifen im Krisenmodus zunächst auf bekannte Bewältigungsmuster und Sinn-Konstruktionen zurück, in denen wir uns heimisch, mit denen wir uns wohl fühlen. Das gilt für jede, jeden einzelne(n), aber auch für diverse Gruppen, Gemeinschaften, Länder und Kulturen. Wir greifen auf das zurück, was uns vertraut ist (Texte, Bilder, Gerichte, Gerüche, Praktiken, Ideen oder etwas, das wir (an)fassen können). Regression im Dienste des Ichs — der eine etwas ängstlicher, die andre etwas lässiger.

Das Phänomen ist menschlich und erwartbar, es bestätigt viele grundlegende Theorie der Psychologie und wird jetzt überall sichtbar: Auf dem Feld der Politik ebenso wie in den Feldern der Wissenschaften, der Kunst und des Alltags. In Zeiten der Ungewissheit tauchen daher Bewältigungsmuster und Sinn- Konstruktionen in gewohnter und gleichzeitig in sehr vielfältiger Form auf — so unterschiedlich, wie Menschen, Gruppen, Gemeinschaften und Kulturen nun einmal sind.

Eine Illustration der benannten Tatsachen ist kaum nötig, schon weil jede Liste unvollständig, tendenziös und gegenüber der Vielfalt Erscheinungen ungerecht wäre.

Wie Vielfalt entsteht 

Bei der Hervorbringung von Vielfalt wirken individuelle und kollektive Bewältigungsmuster und Sinn-Konstruktionen —  kommunikativ gekoppelt — ineinander:

  1. A) Individuelle Bewältigungsmuster und Sinn-Konstruktion sind (a) biografisch und (b) kulturell tief in der Psyche verankert, zudem werden sie durch (c) die Stellung in der Gesellschaften, (d) politische Überzeugungen, (e) besondere Identitätskonstruktionen, (f) persönliche Leidenschaften, (g) Lebensstile und (h) spezifische Echoräume (diskursive Blasen) bestimmt und geformt.
  1. B) Kollektive Bewältigungsmuster und Sinn-Konstruktionen sind tief im kollektiven Bewusstsein von Gruppen, Gemeinschaften, Ländern und Kulturen verankert; einem jeweils spezifischen gemeinsam geteilten Hintergrund(vgl. Common Ground, Herbert H. Clark, Edward F. Schaefer, 1989) aus geteilten Praktiken und Kommunikationen, Ideen, Werten, Normen, Standards und Glaubensätzen.

Aus der jeweils besonderen Kombination und Variation von A) und B) entwickelt sich in einem fehlerfreundlichen Prozess eine bunte Vielfalt von Bewältigungsmustern und Sinn-Konstruktionen (und die Erzählungen, Blogs, Videos, Zeitungen, die Literatur sind voll davon).

Aufmerksamkeit für Achtsamkeit und gegenseitigen Respekt 

In Situationen, in denen gemeinsames und einheitliches Handeln, wo Solidarität besonders gefordert ist, und gleichzeitig Vielfalt blüht, sind Konflikte vorprogrammiert. Deshalb scheint es in Krisenzeiten intelligent und nützlich, besonders achtsam und respektvoll mit unterschiedlichen Bewältigungsmustern und Sinn-Konstruktionen umzugehen. Denn in diesen Dingen ist der Homo Sapiens[2] besonders empfindlich. Einmal tiefer gekränkt greifen wir verbal oder konkret schnell zur Keule, und, das wissen wir aus vielen Experimenten, je größer die Distanz und Anonymität, desto gnadenloser schlagen wir zu.

Wir müssen also tun, was leicht gesagt aber nicht so einfach zu machen ist.

Ein gelassener und respektvoller Umgang miteinander wäre – besonders in Bezug auf unterschiedliche Bewältigungsmuster und Sinn-Konstruktionen —  hilfreich, um Solidarität und gemeinsames Handeln zu ermöglichen. Das gilt besonders für jene Phasen, die nach dem ersten Erschrecken und Innehalten kommen, wenn Handlungsdruck, Unsicherheit, Angst und Aggression ansteigen.

Wenn es gut läuft, lernen wir, sehr genau nachzufragen und einander achtsam zuzuhören, ohne das Gefühl zu haben, unsere eigenen Ideen dabei zu verlieren oder zwangsweise aufgeben zu müssen. Aus der Mitte solcher dialogischer Verhandlungsprozesse kann, wenn es gut geht, Kreatives, gar Innovatives entstehen (ganz nebenbei entwickeln sich dabei Ich-Stärke und Einfühlungsvermögen).

Fehlerfreundlichkeit und Konfliktbereitschaft

Fehler und Irrtümer werden in dem Lernprozess, in den wir jetzt gemeinsam, ungewollt und auf unbestimmte Dauer, eintreten, an der Tagesordnung sein. Wohl denen, die sich selbst und anderen Fehler und Irrtümer eingestehen und zugestehen können.

Angesichts komplexer Herausforderungen – und den damit verbundenen Dilemmata — kann es zu harten und intensiven Konflikten kommen; dann wird es darauf ankommen, Probleme offen anzusprechen und Konflikte offen auszutragen (ohne immer gleich beleidigt zu sein oder als Sieger vom Platz gehen zu wollen). Konfliktsituationen müssen ausgehalten und schwierige Situationen durchgehalten werden, um nachhaltige Lösungen zu entwickeln.

In jedem Fall sollten die Fakten im Blick bleiben und zählen. Zensur oder gefälschte Fakten sind im Kampf gegen Viren ebenso kontraproduktiv wie Impulsdurchbrüche oder Verleugnung.

Nicht immer wird unter hohem Entscheidungsdruck ein Konsens gefunden werden können. Unterschiedliche Strategien, Konzepte und Meinungen werden aufeinanderprallen – und doch muss zeitnah entschieden werden, wie das Abenteuer weitergehen soll. Oft ist es klug und angemessen, verschiedene Optionen gleichzeitig zu verfolgen, andererseits müssen klare Entscheidungen getroffen werden.

Wir leben nicht in einer idealen Welt, aber im besten Fall finden wir gemeinsame gangbare Wege, die zu unseren Unterschiedlichkeiten passen.

[1] Z.B. Georg Kreissler, Lied über den Herrn Meyer mit seinem Hund:https://www.youtube.com/watch?v=rUZLTgmbpq0
[2] Und das sind wir nun Alle: Homo Sapiens, andere Menschenarten gibt es nicht mehr.

[2] Und das sind wir nun Alle: Homo Sapiens, andere Menschenarten gibt es nicht mehr.

[3] Wer im Internet Videos mit diesem Zungenschlag sieht, sollte vorsichtig sein, es könnte sich um den russischen Geheimdienst handeln.

Über Jan Bleckwedel

Psychologe und Autor
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