Das Vitalitätsfenster – Wie lebende Systeme nachhaltig Entwicklung und Überleben sichern (können)

Die Corona-Pandemie verdeutlicht auf eindrückliche Weise, wie wir Entwicklung und Überleben nachhaltig sichern können. In einer entwicklungsorientierten Perspektive geht es ganz wesentlich um eine ausgewogene Balance von Resilienz und Effizienz.

Das Vitalitätsfenster

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Wir können zwei Aktivitäten unterscheiden, durch die lebende Systeme – zum Beispiel einzelne Zellen, Gehirne, Individuen oder soziale Gemeinschaften –  ihr Überleben nachhaltig sichern (können):

A) Resilienzfördernde Aktivitäten

> Aufbau und Pflege paralleler Strukturen/Kapazitäten/ Potenziale, die nicht unmittelbar genutzt werden und als „Backup“/Möglichkeiten dienen.

> Aktivitäten, die Fehlerfreundlichkeit (vgl. Prinzip Fehlerfreundlichkeit) herstellen, d.h. Aktivitäten die für Redundanz, Grenzziehung und Austausch gleichermassen sorgen, um die Entfaltung von Vielfalt (Diversity) zu sichern.

> Aufbau und Pflege von Querverbindungen und Quervernetzungen(Interconnections), die, weil zunächst nicht unbedingt nötig und genutzt, „überflüssig“ erscheinen.

B) Effizienzförderne Aktivitäten

> Volle Ausnutzung und Auslastung aller zur Verfügung stehenden Strukturen/Kapazitäten/Potenziale zum stringenten und stromlinienförmigen (streamlined) Verfolgen und Erreichen bestimmter Ziele.

Zum optimalen Verhältnis von resilienzfördernden und effizienzfördernden Aktivitäten

Lebende Systeme suchen stets nach einem optimalen, ausgewogenen Verhältnis beider Aktivitäten. Nimmt man die empirische Forschung (Ergebnisse aus Biologie, Neurobiologie, Psychologie, Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Soziologie und Ökonomie) über lebende/komplexe Systeme ernst, dann sind lebende Systeme dann nachhaltig lebens- und überlebensfähig, wenn sie in etwa 2/3 ihrer Aktivitäten für Resilienz und 1/3 für Effizienz aufwenden.

Ein gutes Beispiel ist das Gehirn, bzw. Gehirnaktivitäten.

Was für biologische Systeme gilt, gilt ebenso für psychische und soziale Systeme. Auch hier finden sich leicht zahlreiche Beispiele (Die Regenerationsfähigkeit psychischer Systeme (versus „Burn out), das Funktionieren sozialer Systeme wie  Familien, Gruppen oder Gemeinschaften.

Das Vitalitätsfenster

Die Grafik stellt den beschriebenen Zusammenhang in einer Kurve dar. Das Vitalitätsfenster (Bernard Lietaer et.al.) zeigt denBereich, in dem lebende Systeme nachhaltig überlebensfähig bleiben können.

Eine einfache Überlebensformel

Es ergibt sich eine einfache Überlebensformel: Aktivitäten für Resilienz sind etwa doppelt so wichtig wie Aktivitäten für Effizienz. Der goldene Schnitt, das optimale Verhältnis für lebende Systeme lautet:

2/3 belastbarkeitssichernde Aktivitäten
1/3 effizienzsichernde Aktivitäten

Wenn Resilienz zum Problem wird

Systeme, die zu sehr nach Resilienz streben (zu stark auf Aktivitäten zum Erhalt von Belastbarkeit setzen), verlieren ihre Durchsetzungsfähig. Sie werden irgendwann an den Rand gedrängt und/oder sterben ab.

Wenn Effizienz zum Problem wird

Systeme, die zu sehr nach Effizienz streben, verlieren ihre Widerstandsfähigkeit. In kritischen Situationen (wenn die Umgebungsbedingungen sich abrupt und extrem ändern) verlieren sich leicht ihre Stabilität (und brechen zusammen), oder sie implodieren in dem überhitzten Feuerwerk, das sie selbst erzeugen.

Beispiel Finanzkrise 2008

Speziell das internationale Finanzsystem, sagen Bernard Lietaer, Robert E. Ulanowicz, Sally J. Gerner und Nadia McLaren (von denen das Konzept stammt) operierte seit den 80ger Jahren des vorherigen Jahrhunderts (vorangetrieben durch einen radikalen Neoliberalismus), weit außerhalb des Vitalitätsfensters – und zeigte sich (als die Immobilienblase platze) entsprechend hochgradig instabil – durch zu hohe Effizienz und eine ausgeprägte Monokultur der Geldschöpfung durch wenige große, global agierende Finanzakteure (Banken, Hedge-Fonds). Immer schneller aufeinander folgende Finanzkrisen sind die Folge, wenn das System weiterhin unbalanciert bleibt und mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf Verluste nach immer mehr Effizienz strebt. Das lässt sich mit dem beschriebenen theoretischen Modell sehr gut erklären.

Beispiel Corona-Krise 2020

In den letzten Dekaden wurden die Gesundheitssysteme weltweit (getrieben durch den Neoliberalismus) auf Effizienz getrimmt. Beim Ausbruch einer gesundheitlichen Krise, wie einer Pandemie, kommen viele Systeme an den Rand ihrer Belastbarkeit, teilweise   kollabieren sie. Holland zum Beispiel hat sein Gesundheitssystem viel effizienter „reformiert“ (und dafür die Deutschen gescholten), nun, in der Corona-Krise, sind die Niederländer froh, Patienten über die Grenze nach Deutschland verlegen zu können.

Die Corona-Krise offenbart, dass die Gesundheitssysteme nicht resistent genug entwickelt wurden (bzw. systematisch auf Effizienz getrimmt und damit „kaputtgespart“ wurden).

Resilienz und Effizienz klug ausbalancieren    

Das Modell liefert wertvolle Hinweise dafür, worauf intelligente Personen und kluge soziale Systeme achten sollten, wenn sie sich nachhaltig weiterentwickeln und überlebensfähig bleiben wollen.

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Über Jan Bleckwedel

Psychologe und Autor
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