GEORGE PACKER , ist einer der bekanntesten Reporter der USA und schreibt für The Atlantic. Die Abwicklung, sein genau recherchiertes, episches Buch über die katastrophale Entwicklung der sozialen Wirklichkeit Amerikas gewann 2013 den National Book Award. Wer das Buch gelesen hat, konnte Trumps Wahl vorhersehen. Nun analysiert Packer in einem bemerkenswerten Artikel, veröffentlicht in der ZEIT vom 29.April 2020, die politische Entwicklung der USA seit 9/11: nüchtern, präzise, und erschreckend.
Von George Packer Gescheitert?
„Inkompetenz, Verschwörungstheorien und Wunderheilmittel: Wie die Pandemie den Amerikanern zeigt, dass sie unter einem korrupten Regime leben.
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 19/2020. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.
Als das Virus in den USA eintraf, fand es ein Land mit schweren Vorerkrankungen vor und nutzte sie skrupellos aus. Chronische Leiden – eine korrupte politische Klasse, eine erstarrte Bürokratie, eine herzlose Wirtschaft, eine gespaltene, abgelenkte Bevölkerung – waren seit Jahren nicht behandelt worden. Wie schwerwiegend sie waren, offenbarte sich erst durch die direkte Erfahrung einer Pandemie. Sie erschütterte uns Amerikaner mit der Erkenntnis, dass wir zur Hochrisikogruppe gehören.
Die Krise erforderte rasches, rationales, gemeinsames Handeln. Stattdessen reagierten die Vereinigten Staaten wie Pakistan oder Weißrussland – wie ein Land mit minderwertiger Infrastruktur und einer dysfunktionalen Regierung, deren Chefs zu korrupt oder zu dumm waren, um massenhaftes Leid abzuwenden. Die US-Regierung vergeudete zwei unwiederbringliche Monate, die sie zur Vorbereitung hätte nutzen können. Der Präsident zeichnete sich durch vorsätzliche Blindheit, Schuldzuweisungen, Prahlereien und Lügen aus, seine Sprachrohre verbreiteten Verschwörungstheorien und priesen Wunderheilmittel.
Den ganzen schier endlosen März über stellten die Amerikaner jeden Morgen beim Aufwachen fest, dass sie in einem gescheiterten Staat lebten. Da es keinen nationalen Plan, keine einheitlichen Anweisungen gab, mussten Familien, Schulen und Büros selbst entscheiden, ob sie einen Shutdown durchführen und Schutz suchen sollten. Als sich herausstellte, dass Tests, Masken, Kittel und Beatmungsgeräte knapp waren, baten Gouverneure das Weiße Haus um Hilfe. Dieses jedoch zauderte und wandte sich dann an die Wirtschaft, die aber nicht liefern konnte. Die Bürger holten die Nähmaschinen heraus und versuchten, das unzureichend ausgerüstete Krankenhauspersonal gesund und dessen Patienten am Leben zu halten. Russland, Taiwan und die Vereinten Nationen schickten humanitäre Hilfe ins reichste Land der Welt – in eine Bettlernation im heillosen Chaos. Donald Trumpbetrachtete die Krise nahezu ausschließlich aus persönlicher und politischer Perspektive. Aus Angst um seine Wiederwahl erklärte er die Corona-Pandemie zum Krieg und sich selbst zum Kriegspräsidenten.
Trotz zahlloser Beispiele für Mut und Opferbereitschaft von Menschen überall in den USA handelt es sich um ein Scheitern auf nationaler Ebene. Und dies sollte eine Frage aufwerfen, die die meisten Amerikaner sich nie stellen mussten: Haben wir das nötige Vertrauen zu unserer politischen Führung und zueinander, um gemeinsam gegen eine tödliche Bedrohung vorzugehen? Können wir uns noch selbst regieren?
Dies ist die dritte große Krise im jungen 21. Jahrhundert. Die erste, die sich am 11. September 2001 ereignete, kam zu einer Zeit, als die Amerikaner gedanklich noch im vorigen Jahrhundert lebten und Wirtschaftskrise, Weltkrieg und Kalter Krieg in der Erinnerung sehr präsent waren. Damals betrachteten die Menschen im ländlichen Kernland New York noch nicht als fremdartige Ansammlung von Einwanderern und Liberalen, die ihr Schicksal verdient hatten, sondern als großartige amerikanische Stadt, die im Namen des ganzen Landes einen schweren Schlag erlitten hatte. Feuerwehrleute aus Indiana legten über 1200 Kilometer zurück, um sich an den Rettungsmaßnahmen am Ground Zero zu beteiligen. Unsere spontane Reaktion als Bürger bestand darin, zu trauern und uns gemeinsam stark zu machen.
Durch parteipolitisches Kalkül und katastrophale politische Entscheidungen, insbesondere zum Irak-Krieg, wurde das Gefühl der nationalen Einheit ausgelöscht und eine Verbitterung gegenüber der politischen Klasse gefördert, die nie ganz abgeklungen ist. Durch die zweite Krise – den Zusammenbruch des Finanzsystems im Jahr 2008 – wurde sie noch verstärkt. Die verantwortlichen Spitzenbanker wurden öffentlich angeprangert, aber nicht strafrechtlich verfolgt. Die meisten konnten ihr Vermögen behalten, einige auch ihre Stelle. Schon bald waren sie wieder voll dabei.
All das dauerhafte Leid bekamen Amerikaner in der Mitte und am unteren Rand der Gesellschaft zu spüren. Sie verloren ihre Arbeit, ihr Zuhause und ihre Altersvorsorge. Viele erholten sich nie wieder davon. Die Ungleichheit verschärfte sich weiter.
Trump hat nie auch nur so getan, als wäre er der Präsident des ganzen Landes
Diese zweite Krise trieb einen Keil zwischen Ober- und Unterschicht, Republikaner und Demokraten, Städter und Landbewohner, gebürtige Amerikaner und Einwanderer, gewöhnliche Bürger und politische Führungskräfte. Schon seit Jahrzehnten waren die sozialen Bindungen einer immer stärkeren Belastung ausgesetzt, nun begannen sie sich aufzulösen.
Beide Parteien begriffen erst langsam, wie stark sie an Glaubwürdigkeit eingebüßt hatten. Politik würde von nun an populistisch sein. Die Vorreiterin dieser Entwicklung war Sarah Palin, die absurd unvorbereitete Vizepräsidentschaftskandidatin, die für Fachwissen nur Verachtung übrig hatte und sich am Prominentsein berauschte. Sie war Donald Trumps Johannes der Täufer.
Trumps Sieg fußte auf der Verschmähung des republikanischen Establishments. Doch schon bald wurden sich die konservative politische Klasse und der neue Mann an der Spitze einig. Ungeachtet ihrer Meinungsverschiedenheiten bei Themen wie Handel und Zuwanderung verfolgten sie ein gemeinsames Ziel: öffentliche Finanzen und Vermögen zugunsten privater Interessen auszubeuten. Geldgeber und Politiker der Republikaner, die wollten, dass die Regierung so wenig wie möglich für das Gemeinwohl tat, konnten mit einer Führung leben, die vom Regieren kaum eine Ahnung hatte. Und sie machten sich zu Trumps Lakaien.
Wie ein ungezogener Junge, der brennende Streichhölzer auf eine ausgetrocknete Wiese wirft, begann Trump, das zu opfern, was vom staatsbürgerlichen Leben im Lande noch übrig war. Er hat nie auch nur so getan, als wäre er der Präsident des ganzen Landes. Stattdessen hat er uns entlang der Grenzen von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Religion, Bildungsgrad, Region und parteipolitischer Präferenz gegeneinander ausgespielt. Sein wichtigstes Werkzeug beim Regieren war die Lüge. Ein Drittel des Landes schloss sich in einem Spiegelkabinett ein, das es für die Realität hielt; ein Drittel verlor bei dem Versuch, an der Vorstellung einer erfassbaren Wahrheit festzuhalten, fast den Verstand; und ein Drittel gab sogar diesen Versuch auf.
Trump übernahm eine Regierung, die nach jahrelangen rechtsgerichteten ideologischen Angriffen, einer Politisierung durch beide Parteien und stetigem Zusammenstreichen der Mittel gelähmt war. Er machte sich daran, die Sache zu Ende zu bringen und den Staatsapparat vollends zu zerstören. Er verjagte einige der erfahrensten Beamten, ließ entscheidende Stellen unbesetzt und setzte den eingeschüchterten Überlebenden loyale Anhänger vor die Nase – mit einem einzigen Ziel: seinen eigenen Interessen zu dienen. Durch seine legislative Hauptleistung, eine der größten Steuersenkungen in der Geschichte des Landes, flossen Unternehmen und Reichen Hunderte Milliarden Dollar zu. Die Nutznießer strömten in Scharen in seine Ferienanlagen und ließen ihm Geld zukommen, um seine Wiederwahl zu sichern. Waren Lügen sein Mittel bei der Machtausübung, so war Korruption sein Ziel.
Das war die Landschaft, die das Virus in den USA vorfand: In reichen Städten eine Schicht weltweit vernetzter, in Büros arbeitender Menschen, angewiesen auf eine prekäre Klasse unsichtbarer Arbeitskräfte im Dienstleistungsbereich. Auf dem Land zugrunde gehende Gemeinden, die sich gegen die moderne Welt auflehnten. In den sozialen Medien gegenseitiger Hass und endlose wechselseitige Beschimpfungen der verschiedenen Lager. In der Wirtschaft trotz Vollbeschäftigung eine große, wachsende Kluft zwischen triumphierendem Kapital und Not leitenden Arbeitern. In Washington eine leere Regierung unter Führung eines Hochstaplers und seiner geistig bankrotten Partei – und im ganzen Land eine von Zynismus und Erschöpfung geprägte Stimmung, ohne jegliche Vision einer gemeinsamen Identität oder Zukunft.
Wenn es sich bei der Pandemie tatsächlich um eine Art Krieg handelt, ist es der erste seit anderthalb Jahrhunderten, der auf diesem Boden ausgetragen wird. Invasion und Besetzung bringen die Bruchlinien einer Gesellschaft zum Vorschein, verdeutlichen grundlegende Wahrheiten und lassen aus der Tiefe den Gestank von Verwesung aufsteigen.
Eigentlich hätte das Virus bewirken müssen, dass sich die Amerikaner gegen die gemeinsame Bedrohung zusammenschließen. Und vielleicht wäre das unter einer anderen politischen Führung auch passiert. Stattdessen teilte sich die öffentliche Meinung selbst dann, als das Virus sich vom Demokraten- auf das Republikaner-Terrain ausbreitete, entlang der bekannten parteipolitischen Fronten.
Das Virus hätte auch ein starker Gleichmacher sein müssen, doch von Anfang an wurden seine Auswirkungen durch die Ungleichheit verzerrt, die wir schon so lange hinnehmen. Als Testkits nicht aufzutreiben waren, gelang es den Reichen und gut Vernetzten – Model und Reality-TV-Moderatorin Heidi Klum, sämtlichen Spielern der Basketball-Mannschaft Brooklyn Nets, den konservativen Verbündeten des Präsidenten – irgendwie dennoch, sich testen zu lassen, und das, obwohl viele von ihnen gar keine Symptome hatten. Normale Bürger mit Fieber und Schüttelfrost mussten in langen Schlangen warten, um am Ende doch abgewiesen zu werden. Im Internet kursierte der Witz, man könne nur auf eine Weise herausfinden, ob man an dem Virus erkrankt sei: indem man einem reichen Menschen ins Gesicht niese.
Die jahrelangen Attacken auf den Staatsapparat haben einen tödlichen Preis
In normalen Zeiten fällt den meisten Amerikanern diese Art von Privileg kaum auf, doch in den ersten Wochen der Pandemie löste sie Empörung aus. Die krasse Ungleichheit unseres Gesundheitssystems trat angesichts der Leichen-Kühlwagen deutlich zutage, die vor staatlichen Krankenhäusern warteten.
Am unverfälschtesten verkörpert den politischen Nihilismus Trumps Schwiegersohn und Berater Jared Kushner. Er wurde 1981 in eine wohlhabende Familie mit Immobilienimperium hineingeboren. Trotz seiner mäßigen schulischen Leistungen bekam er einen Studienplatz in Harvard, nachdem sein Vater Charles der Universität eine Spende in Höhe von 2,5 Millionen US-Dollar zugesagt hatte. Der Vater half seinem Sohn auch beim Einstieg in das Familienunternehmen mit Darlehen in Höhe von zehn Millionen Dollar. Kushner setzte seine elitäre Ausbildung an der New York University fort. Sein Vater hatte der Hochschule drei Millionen Dollar zukommen lassen.
Kushner ist als Wolkenkratzer-Besitzer und als Zeitungsverleger gescheitert, hat aber immer jemanden gefunden, der ihn rettete. Als sein Schwiegervater Präsident wurde, erlangte er schnell Macht in einer Regierung, die Dilettantismus, Vetternwirtschaft und Korruption zu Leitprinzipien erhob. Solange er sich nur mit dem Frieden im Nahen Osten befasste, konnte den meisten Amerikanern sein überflüssiges Hineinpfuschen egal sein. Doch seit er ein einflussreicher Berater des Präsidenten in der Coronavirus-Pandemie ist, ist das Resultat ein Massensterben.
In der ersten Woche in dieser neuen Funktion verfasste Kushner die schlechteste Oval-Office-Rede mit, an die man sich erinnert, er unterbrach die wichtige Arbeit anderer Amtsträger und machte törichte Versprechungen, die sich schon kurz darauf in nichts auflösten. Er erklärte etwa, er werde seine Beziehungen nutzen, um Drive-through-Teststationen zu schaffen. Dazu kam es nie. Er machte inkompetente Gouverneure für den Mangel an Ausrüstung und Schutzkleidung verantwortlich.
Das Hereinschneien dieses blassen Dilettanten im schmalen Anzug mitten in eine tödliche Krise signalisiert den Zusammenbruch eines ganzen Regierungsmodus – mag er auch noch so sehr mit Ausdrücken aus dem BWL-Studium um sich werfen, um das eklatante Versagen der Regierung seines Schwiegervaters zu verschleiern. Wie sich zeigt, sind wissenschaftliche Sachverständige und andere Staatsbeamte keine verräterischen Mitglieder eines deep state, sondern unverzichtbare Arbeitskräfte. Werden sie zugunsten von Ideologen und Hofierern ausgegrenzt, gefährdet das die Gesundheit der Bevölkerung. Wie sich zeigt, sind „agile“ Unternehmen nicht in der Lage, sich auf eine Katastrophe vorzubereiten oder lebensrettende Güter zu verteilen – das schafft nur eine kompetente Regierung. Wie sich zeigt, hat alles seinen Preis, und die jahrelangen Attacken auf den Staatsapparat, der ausgehöhlt und in seiner Moral geschwächt wurde, bezahlt die Bevölkerung nun mit Menschenleben.
Der Kampf zur Bewältigung der Pandemie muss auch ein Kampf dafür sein, dass die Gesundheit unseres Landes wiederhergestellt und es neu aufgebaut wird. Andernfalls können wir all das Elend und das Leid, das wir jetzt ertragen müssen, niemals wiedergutmachen. Unter der jetzigen politischen Führung wird sich nichts ändern. So wie sich durch den 11. September und das Jahr 2008 das Vertrauen in die alte politische Klasse abgenutzt hat, so wird das Jahr 2020 der Vorstellung endgültig ein Ende setzen, Anti-Politik sei unsere Rettung. Doch ein Schlussstrich unter dieses Regime, so notwendig und verdient er auch sein mag, wäre erst der Anfang.
Die Krise macht unausweichlich klar, dass wir vor einer Wahl stehen. Entweder wir verbarrikadieren uns weiter in der Selbstisolation, meiden einander angstvoll und lassen zu, dass das, was uns verbindet, vollends verschwindet.
Oder wir lernen aus diesen furchtbaren Tagen, dass Dummheit und Ungerechtigkeit lebensgefährlich sind; dass Bürger zu sein Arbeit bedeutet, die für eine Demokratie wesentlich ist; dass die Alternative zur Solidarität der Tod ist. Wenn wir alle wieder aus unseren Verstecken aufgetaucht sind und die Schutzmasken abgenommen haben, sollten wir nicht vergessen, wie es sich anfühlte, allein zu sein.
Aus dem Englischen von Bettina Röhricht © 2020 The Atlantic Media Co., zuerst veröffentlicht in „The Atlantic Magazine“